120, rue de la Gare
und seien Sie barmherzig und trinken Sie keinen Alkohol vor meinen Augen!“
Die Wohnungsklingel hielt mich von der Erfüllung seines Wunsches ab. Es wurde Sturm geläutet. Der ungeduldige Besucher hielt den Zeigefinger auf den Klingelknopf.
„Ist das der Gerichtsvollzieher?“ scherzte Covet.
„Nein, eine Dame, die mir den Teufel austreiben will. Ihre Anwesenheit würde uns stören, Covet.“
„Verstehe“, sagte er und stand mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. „Ich wohne im Hôtel des Arts in der Rue Jacob. Vergessen Sie mich nicht.“
„Werd mich hüten!“
Ich öffnete die Tür und hätte mir beinahe einen Tritt vors Schienbein gefangen. Florimond Faroux war’s leid, mit dem Klingelknopf Lärm zu produzieren, und wollte gerade seine Füße in Aktion treten lassen.
„Ist das die Dame?“ fragte Marc lachend. „Hätte sich wenigstens rasieren können.“
Mit dieser Bemerkung humpelte er die Treppe runter.
„Was ist das denn für’n Flegel?“ erkundigte sich der Inspektor und stellte sich vor den Heizkörper. Das Ding erfreute sich heute großer Beliebtheit.
„Ein Journalist vom Crépu.“
„Sieht aus wie’n netter kleiner Gauner.“
„Eins schließt das andere nicht aus“, bemerkte ich diplomatisch.
Dann erzählte ich meinem Freund in großen Zügen, was ich in Château-du-Loir rausgefunden hatte.
„Ziemlich aufschlußreich, was?“ beendete ich meinen Bericht. „Das Drama muß sich etwa folgendermaßen abgespielt haben: Aus irgendeinem Grund — um etwas aus ihm rauszukriegen oder ein Geständnis erzwingen — wird Georges Parry von irgendwelchen Leuten gefoltert. Wie die , Heizer von Orgères ’ sengen sie ihm die Fußsohlen an. Aber Parry gibt keine Geheimnisse preis, sondern verliert durch die Extra-Behandlung das Gedächtnis.
Faroux sah mich erstaunt an. Ich stand auf und nahm ein Buch aus dem Regal.
„Das ist eine Studie über den Schlaf“, erklärte ich, „von einem Professor. Hören Sie, was der Gelehrte über dieses merkwürdige medizinische Phänomen schreibt: Wir beobachten, daß der Mensch, der von einer Gefahr bedroht wird, dazu neigt, sich zwar nicht tot zu stellen, so doch einzuschlafen, ein Mittel, sich vor der mißlichen Realität durch Flucht zu schützen. Das ist die sogenannte ,Flucht in den Schlaf’. Dieses interessante Phänomen wurde von verschiedenen Wissenschaftlern beobachtet. Hier der Fall eines Geschäftsmannes: Als er am Telefon von schlechten Nachrichten erfuhr, schlief er plötzlich mit dem Hörer in der Hand ein. Ein anderer Fall: Ein junger Mann verspürt nach heftigen Auseinandersetzungen mit seinem Vater ein dringendes Schlafbedürfnis. Immer wenn der Vater ins Zimmer tritt, schläft er sofort ein. Eine sehr intelligente und energische Frau schläft ein, wenn etwas nicht nach ihren Wünschen verläuft, z. B. während ihrer Gesangsstunden. Ein Student, der von seinem Prüfer nach einem Stoff gefragt wird, den er nur oberflächlich vorbereitet hat, schläft ein, um nicht auf die Fragen antworten zu müssen
Ich klappte das Buch zu.
„Meinen Sie nicht, daß Jo Tour Eiffel durch ein ähnliches psychisches Phänomen sein Gedächtnis verloren hat? Warum sollen wir nicht annehmen, daß seine Psyche in dem Augenblick, als er merkt, daß der physische Schmerz ihn zu einem unfreiwilligen Geständnis zwingt, sich gegen die mißliche Realität schützt, indem er sein Gedächtnis ausschaltet? Denn schlafen ist vergessen, wie der Dichter sagt. Und diese wahrhaft übermenschliche Anstrengung nach mehreren Stunden Folter — am 20. Juni nämlich entläßt ein Mann in Parrys Namen das Ehepaar Mathieu, und außerdem habe ich in den anderen Zimmern die Spuren einer Art Feldlager entdeckt — diese Anstrengung also bringt das Gleichgewicht von Jo Tour Eiffel durcheinander und bewirkt nicht nur den vorübergehenden, sondern den endgültigen Gedächtnisverlust. Erst sehr viel später — wieder in einer Ausnahmesituation! — kehrt sich der Vorgang um. Und die ersten Worte, die ihm über die Lippen kommen — und dafür möchte ich meine Hand ins... äh... Feuer legen! — , sind genau die, die seine Folterer ihm nicht entreißen konnten: 120, rue de la Gare. Eine Adresse, wenn ich recht verstehe, die denen, die sie kennen, kein Glück bringt.“
Faroux klatschte in die Hände.
„Sie haben immer geistreiche Erklärungen parat“, bemerkte er. „Im Moment kann ich Ihnen nicht widersprechen... und ich will’s auch gar nicht! Mir gefällt Ihre
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