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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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Stand zu bringen. Diesen Kalender hier hatte seit dem 21. Juni niemand anders außer uns gesehen.
    Und ein Feuer ward gemacht, in diesem Zimmer, am 21. Juni.
    Von dem Kalender wanderte mein Blick auf den Korbsessel, der vor dem Kamin stand. Sah aus, als habe ihn ein schrecklich frierender Mensch direkt vor das Feuer geschoben. Plötzlich stieß ich ein wahres Feudengeheul aus. Auf dem Boden um den Sessel lagen starke Schnüre verstreut, richtige kurze Stricke.
    Bébert ging im Zimmer hin und her und hob Zigarettenkippen auf. Hatte sich wohl meinen Rat von gestern abend zu Herzen genommen. Ich unterbrach seine leidenschaftliche Sammlertätigkeit.
    „Wann bist du gefangengenommen worden?“
    „Noch mal? Am 21. Juni.“
    „Und an diesem Tag seid ihr auf La Globule gestoßen?“
    ”J a ’„
    „Da war noch was Merkwürdiges... Hast du mir nicht erzählt, daß er was an den Füßen hatte?“
    „Ja. Ein einziger Brei war das. Ganz verkohlt. Als hätte er den Feuertanz geübt..
    Allerdings! Man hatte Jo Tour Eiffel auf dem Feuer tanzen lassen. Es gab keinen Zweifel, daß wir uns in einem von Georges Parrys Schlupflöchern befanden. In den folgenden Stunden hatte ich genug Zeit, mich davon zu überzeugen. Außer den Gesamtwerken von Herrn Sowieso und Herrn Soundso, die nur zur Dekoration die Bibliothek schmückten und deren Buchseiten noch nicht mal aufgeschnitten waren, zeugten die Bücher in den Regalen von dem Lesevergnügen, dem der Gangster sich in seiner Freizeit hingegeben hatte. Außerdem standen noch einige anstößige Bücher da und andere von... beruflichem Interesse. Damit meine ich Lehrbücher der Rechtssprechung und der Kriminologie. Auch eine anregende Sammlung von Zeitungen fand ich. Jo Tour Eiffel hatte manchmal gerne die Berichte über seine Heldentaten gelesen.
    In einem der Bücher lag die Fotografie eines jungen Mädchens, das Michèle Hogan zum Verwechseln ähnelte. Ansonsten konnte ich aber kein interessantes Dokument entdecken. Das überraschte mich nicht, denn im allgemeinen pflegen Verbrecher kein Archiv mit kompromittierenden Papieren anzulegen.
    Ich ging wieder zu dem Korbsessel und sah ihn mir genau an. An der Kopfstütze befand sich links oben ein eigenartiger Kratzer. Ungefähr an der Stelle, an der die Wange eines Sitzenden ruhen mußte. Der Sessel war zwar staubbedeckt, aber neu. Bébert hatte die Suche nach Zigarettenkippen beendet. Erstaunt sah er mir zu, wie ich eine Lupe aus der Tasche holte und das gesamte Möbelstück mit forschendem Blick absuchte. Ich kann nicht behaupten, daß ich sensationelle Entdeckungen machte, aber schließlich bemerkte ich einen Glassplitter. Vorsichtig holte ich ihn mit meinem Messer zwischen dem Korbgeflecht hervor und legte ihn in meine Brieftasche.
    Sorgfältig schlossen wir wieder die Fensterläden und verließen diesen finsteren Ort, an dem sich eine Tragödie abgespielt hatte, während draußen der Krieg gewütet hatte. Die Schmerzensschreie des Gangsters unter einer Folter dritten Grades à la 18. Jahrhundert waren in dem Geschützfeuer und dem Rattern der Maschinengewehre untergegangen. Die einsame Lage des Hauses schließlich hatte dafür gesorgt, daß seit Juni kein Mensch seinen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte.
    Inzwischen war die gesamte Landschaft unter dem Schnee verschwunden. Ein scharfer Wind hatte sich erhoben. Wirklich kein Wetter, um sich im Freien herumzutreiben. Ich klopfte an die Tür des erstbesten Hauses, an dem wir vorbeikamen. Ich konnte es gar nicht besser treffen.
    Eine Viertelstunde lang war ich damit beschäftigt, einen kläffenden Köter zu beruhigen und das Vertrauen eines noch rüstigen Alten, dem man die Wilderei schon von weitem ansah, zu gewinnen. Doch dann erhielt ich von dem Mann folgende Informationen:
    Das einsame Landhaus gehörte einem gewissen Monsieur Péquet. Der alte Wilderer erkannte ihn auf dem Foto als die Nr. 60 202 wieder. Dieser Monsieur Péquet war ein komischer Kauz, lebte zurückgezogen, hatte mit niemandem aus dem Dorf Kontakt und erhielt keinen Besuch. Er wohnte seit 1939 dort. Seitdem bildete das Ehepaar Mathieu (mein Informant stellte den männlichen Teil dar) das „Gesinde“ des Landhauses. Am 20. Juni 1941 — Mathieu erinnerte sich ganz genau an das Datum, weil am Abend zuvor ein Verwandter gestorben war — am 20. Juni also wurde das Ehepaar Mathieu von dem Mann besucht, der sie 1939 in Monsieur Péquets Namen eingestellt hatte. Er brachte ihnen ihre persönlichen Sachen, die sich

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