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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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nämlich noch so einiges geklärt werden: Wie ist Colomer zu dem verschlüsselten Text gekommen? Warum hatte er ihn abgeschrieben? Woher wußte er, daß die Adresse so wichtig war? Warum hat er den Text mit Jo Tour Eiffel in Verbindung gebracht? Fragezeichen über Fragezeichen...“
    „Ja. Und dazu noch die hinter dem Namen Georges Parry. Warum trug er eine Uniform? Warum haben ihn seine Peiniger mit dem Leben davonkommen lassen? Schließlich waren das doch keine Erstkommunionkinder...“
    „Oh, darauf weiß ich wohl eine Antwort! Es brannte in der Gegend — im wörtlichen wie im übertragenen Sinne! Jeden Augenblick konnten sie entdeckt werden, und das mit der Leiche einer Zivilperson! Sie müssen wohl gemerkt haben, daß ihr Opfer den Verstand verloren hatte. Also nahmen sie Parry die Fesseln ab und zwängten ihn in eine Uniform. Bevor sie sich aus dem Staub machten, schossen sie auf ihn. Aber sie waren zu nervös, um richtig zu treffen. Parry war nicht tot.“
    „Eine Phantasie haben Sie! Erzählen das, als wären Sie selbst dabeigewesen...“
    „Sie wollen mir doch etwa keine Handschellen anlegen, hm?“ sagte ich lachend. „Nur weil ich mehr Phantasie als diese Berniers habe!“
    Wir mußten wohl gerade an dem Lion de Belfort vorbeifahren. Es war stockfinster. Ich grüßte höhnisch in die Richtung, wo ich den Löwen vermutete. Wir bogen in die Avenue d’Orléans ein. In der Rue d’Alésia hielt der Chauffeur an, holte einen Stadtplan hervor und studierte ihn. Der Inspektor sah ihm über die Schulter.
    „Avenue de Châtillon“, murmelte Faroux, „dann die Route de Rambouillet. In der Maison-Blanche biegen wir nach links ab, Route Stratégique, und dann die erste rechts, das ist die Rue de la Gare.“
    „Mein Gott!“ rief ich. „Also ist das ganz in der Nähe, und ich hör den Straßennamen zum ersten Mal zwischen Bremen und Hamburg!“
    An der Porte de Châtillon sahen wir am schwarzen Himmel Scheinwerferlicht. Nach fünfzig Metern heulten die Sirenen unheilverkündend auf. Alarm!
    „Was soll das?“ fragte Faroux erstaunt. „Probealarm?“
    „Nein. Das sind die Boten des Friedens. Hören Sie nicht das Freudenfeuerwerk?“
    Der Motor unseres Wagens hatte bis jetzt den entfernten Lärm der Flak übertönt. Eine schwere Batterie war aber nicht mehr zu überhören: Bum! Bum! Das Geschoß verlor sich in den Wolken.
    „Eine schöne Nacht für eine Orgie in der Tour Pointue! Seien Sie bloß nicht so dumm, Ihre eigenen Verfügungen zu befolgen. Sie sind doch von der Polizei, oder? Wir haben in der Rue de la Gare zu tun. Wenn wir vor dem Ende des Alarms ankommen, könnten wir die Bewohner der 120 im Keller überraschen.“
    „Was sollen wir ihnen sagen?“
    „Kommt auf die Situation an. Auf jeden Fall durchsuchen wir erst mal den ganzen Bau. Hoffentlich ist das kein Hochhaus!“ Das Geschützfeuer dauerte an. Manchmal vibrierte der Boden. Der Himmel hing voller Lichtbündel.
    Wir fuhren unter einer Brücke hindurch und bogen in die heißersehnte, im Moment mit schmutzigem, zertrampeltem Schnee bedeckte Rue de la Gare ein.
    Vor einem großen, weißen Schild ließ ich den Fahrer halten. Es stand mitten auf einem eingezäunten Grundstück. Im Schein meiner Taschenlampe las ich: S.A.D.E.
    „Jetzt kann’s nicht mehr weit sein“, stellte ich fest.
    Wir fuhren weiter. Man konnte wirklich nicht behaupten, daß die Häuser sich hier aneinanderdrängten. Mehrere Meter rechts und links nichts als freies Feld. Wir gelangten zu kleinen Pavillons und stiegen aus, um die Hausnummern lesen zu können. Endlich entdeckten wir die 120.
    Das Häuschen war mindestens einhundertfünfzig Meter von den anderen entfernt. Düster und trostlos lag es da, von einer niedrigen Mauer mit Gitteraufsatz umgeben. Weder aus dem Hochparterre noch aus der ersten Etage drang Licht. Faroux wies den Fahrer an, die Scheinwerfer auf die Fassade zu richten. Die Fensterläden waren geschlossen. Nur der letzte links hing an einer einzigen Angel. Bei dem Anblick der abweisenden Fassade hatte ich dasselbe bedrückende Gefühl wie am Abend zuvor in dem Wäldchen bei Château-du-Loir.
    Ich suchte nach einer Klingel, fand sie und drückte auf den Knopf. Im Innern des Häuschens hallte eine Glocke wider, aber es rührte sich nichts. Ich versuchte es noch einmal. Ohne Erfolg.
    „Es muß aber vor kurzem jemand hier gewesen sein“, sagte ich und leuchtete mit meiner Taschenlampe den Weg vom Gartentor zur Haustür aus. „Der Schnee ist

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