120 - Sterben in Berlin
tatsächlich, da stand sie: die zierliche Frau mit dem schwarzen Kurzhaar! Die junge Frau, die tot sein müsste, deren Fleisch sie den Kröten und Fischen zu fressen gegeben hatte!
Bleicher noch als sonst wurde Naura. Kein Wort kam über ihre Lippen. Sie starrte die schmale Gestalt in der schwarzen Lederrüstung vor dem Gartentor an, und zum ersten Mal, seit sie Beelinn an Siimns Seite durch das Osttor betreten hatte, war sie wirklich verwirrt. Miouu aber, die Naura von unten erkannte, riss ihr Langschwert aus der Rückenscheide.
»Seht! Sie steht an seiner Seite!«, schrie sie. »Brecht die Tür auf! Holt sie euch!«
Naura stieß Johaan zur Seite und rannte zur Treppe. Auf der unteren Stufe blieb sie stehen, fuhr herum und streckte Arm und Zeigefinger nach Osgaard aus. »Du wirst für mich kämpfen!« Im nächsten Moment flog die Tür auf, und drei Frauen und Bulldogg stolperten ins Haus. Zwei Frauen warfen sich auf Naura, packten ihre Robe und hielten sie fest. Der Braandburger Heerführer ging mit blanker Klinge auf den Oberst der Palastgarde los.
Naura trat nach den Frauen, schlüpfte gleichzeitig aus ihrer Robe und überließ sie ihnen. In Unterrock und Brusthalter sprang sie die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer warf sie sich mit dem Rücken gegen die Tür und schloss sie ab. Sie riss Decken und Felle aus dem Bett, packte die Öllampe, die Meister Johaan nach Sonnenaufgang zu löschen vergessen hatte, und drehte den Docht auf. Das brennende Bettzeug warf sie vor die Tür. An der Wand neben dem Spiegel hing ein großes Schwert, dessen Knauf mit Edelsteinen besetzt und in dessen schmaler Klinge Johaans Name eingraviert war. Naura riss es aus der Scheide, lief zum Fenster, dann sprang in den Garten hinunter.
Ein paar Frawen sahen sie von der Straße aus durch die Blumenbeete rollen. »Da ist sie!«, kreischten sie. »Die Mordschlampe ist aus dem Fenster gesprungen!«
Naura rannte zum Pavillon hinauf, warf Stühle und Tische hinter sich um, rannte durch die Blumenbeete zum Zaun.
Nur ein einziges Mal blickte sie zurück: Qualm drang aus dem Fenster im ersten Obergeschoss; zwanzig oder dreißig Menschen rannten rechts und links des Pavillons vorbei oder durch ihn hindurch auf die Stelle zu, an der sie den Zaun überwunden hatte.
Sie schleuderte den Verfolgern einen Fluch in der Sprache der Wandernden Völker entgegen. Dann wandte sie sich zur Flucht und spurtete durch die engen Gassen in Richtung Südtor…
***
Kaum zu glauben, wie flink Bulldogg seinen massigen Körper zu bewegen verstand. Miouu rannte so schnell sie konnte, und dennoch blieb der wesentlich Ältere nicht zurück. Sie und er hatten sich an die Spitze der Verfolger gesetzt. Aus irgendeinem Grund stand das Südtor weit offen, und als sie aus der Stadtmauer liefen, sahen sie Naura zwei Speerwürfe entfernt in einem Maiisfeld verschwinden.
»Sie will in den Wald!«, brüllte Bulldogg. »Schneidet ihr den Weg ab! Lasst sie nicht entkommen!«
Sieben oder acht Frawen und drei bewaffnete Gardisten rannten direkt in den Wald, um Naura am waldnahen Rand des Maiisfeldes zu erwischen. Die Hauptmenge der Verfolger brach unter Miouus und Bulldoggs Führung in das Feld ein, walzte den Maiis nieder und scheuchte eine Herde Rotwild auf.
Die Tiere galoppierten in den Wald. Miouu, die sich jetzt an die Spitze der Verfolger gesetzt hatte, war die Einzige, die Nauras nackten Rücken und den Lichtreflex ihrer Schwertklinge für den Bruchteil eines Augenblicks inmitten der Herde erkannte. »Sie flieht zu den Turmruinen!«, schrie sie und winkte die anderen hinter sich her.
»Turmruinen« war der Name für die Ruinen besonders hoher Häuser in den Ruinenwäldern rund um die Stadtmauer Beelinns, und in genau eine solche Ruine sah Miouu die Mätresse flüchten, als sie wenige Atemzüge später eine Waldlichtung erreichte.
»Da!«, brüllte sie. »Umstellt die Ruine! Sie darf nicht entkommen!«
Fast hundertzwanzig Köpfe zählte die Verfolgergruppe inzwischen, mehr als ein Fünftel der Beelinner Bürger, und etwa dreißig davon gehörten der Palastgarde oder der Mauergarnison an. Im Nu bildete sich ein dichter Ring von Menschen rund um die Hochhausruine. Bulldogg, Maakus und Wulfgang drangen mit knapp drei Dutzend Männern und Frauen in die Ruine ein. Miouu selbst blieb vor dem Eingang stehen. Ihre Augen suchten Stockwerk für Stockwerk ab.
Eine Zeitlang geschah überhaupt nichts. Irgendwann hörte sie Schwertklingen gegeneinander schlagen und eine Frauenstimme
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