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120 - Sterben in Berlin

120 - Sterben in Berlin

Titel: 120 - Sterben in Berlin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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stieß einen Schrei aus. Plötzlich streckten sich zwanzig, dreißig Arme auf einmal aus und deuteten auf ein Fenster im siebzehnten oder achtzehnten Stockwerk.
    In einer Maueröffnung bewegte sich etwas. Wieder hörte Miouu einen Schrei, der ihr durch Mark und Bein fuhr. Sie sah eine Gestalt im Durchbruch. Schwarze Haare flatterten im Wind, ein Blondschopf beugte sich darüber, und schließlich löste sich die Gestalt mit dem schwarzen Langhaar aus der Öffnung. Sie trudelte an der Fassade entlang, überschlug sich, prallte ein paar Mal gegen die Mauer und in das Gestrüpp, das sie bedeckte, und schlug schließlich unweit des Eingangs im Unterholz auf. Die Frawen, die vor Miouu die Stelle erreichten, beugten die Köpfe und Oberkörper, doch nur um zu erstarren und sofort einen Schritt zurück zu weichen. Eine rannte schreiend davon, zwei beugten sich ins Unterholz und übergaben sich geräuschvoll.
    »Ist sie es?« Miouu drängte sich an den Frauen vorbei. Die meisten schlugen die Hände vor die Augen oder vor den Mund.
    Miouu beugte sich über die Leiche. Sie war es. Das Gesicht war zwar nichts weiter mehr als ein feuchter roter Lappen, in dessen unzähligen Spalten und Ausstülpungen man ein Auge, eine Braue und einen Oberkiefer mit ein paar Zähnen erkennen konnte, und Glieder und Kopf hingen seltsam verdreht im Gestrüpp, doch das schwarze, blutverschmierte Haar war Nauras Haar, die Stiefel waren Nauras Stiefel, und die schwarze, von Blut und Urin nasse Wäsche war Nauras Wäsche.
    Etwas wie Genugtuung erfüllte Miouus Brust. Trotzig schob sie den Unterkiefer vor und gab sich keine Mühe, ihre Befriedigung vor sich selbst oder den Frauen zu verbergen. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf. Dort hinauf, wo die meisten anderen längst hinschauten. Ein Mann beugte sich dort oben aus dem Fenster. Er war blond, und er schien jung zu sein. Irgendjemand begann zu jubeln, andere stimmten ein.
    ***
    Sie brachten den Fremden vor die Königin. Ein stattlicher Mann mit vollen, goldblonden Locken und höchstens dreißig Jahre alt. Zwei blutige Klingen hielt er in den Händen, eine Wunde zog sich über seine Brust. Er hatte Naura ebenfalls verfolgt, erzählte er, während er zwischen Miouu und Bulldogg über die breite Straße zum Palast schritt. Er verfolge sie schon seit vielen Monden, berichtete er. Vom äußersten Nordland bis an die Gestade des Ostmeeres habe er ihr nachgejagt. Miouu fühlte sich wohl in seiner Nähe. Verstohlen blickte sie ihn von der Seite an, während er erzählte.
    Königin Jenny stieß einen Freudenschrei aus, als Miouu lebend in ihre Gemächer trat. Sie umarmte und küsste sie. Ihre kleine Tochter tanzte aufgeregt um sie herum und wollte sie gar nicht mehr loslassen.
    Später dann, im Empfangssaal, runzelte die Königin die Stirn, während Bulldogg ihr von Nauras Tod berichtete. Und als er den Sturm auf Meister Johaans Haus schilderte und Johaan samt Osgaard und seinen Männern in Fesseln vor sie geschleppt wurden, verfinsterte sich ihre Miene zusehends.
    »Was fällt euch ein?«, sagte sie leise. »Nehmt dem Ersten Königlichen Berater sofort die Fesseln ab!«
    »Verzeiht, wenn ich mich einmische.« Der Fremde trat vor sie und verbeugte sich. »Er hat euren Tod geplant, Königin Jenny.«
    »Was redest du!« Misstrauisch beäugte die Königin den fremden Mann. »Wer bist du überhaupt?! Kannst du beweisen, was du sagst?«
    »Ich bin Gesandter und Throngardist des großen Königs Ulfer von Gödenboorg. Vor sechs Wintern kam die schreckliche Naura ins eisige Nordland und schmeichelte sich bei Hof ein. Sie umgarnte die Männer, bis sie ihr hörig waren, genau wie sie es auch hier bei euch tat. In Gödenboorg war es vor allem der Erste Offizier der Throngarde, der sich ihr als williges Werkzeug hingab. Er war es, der Nauras Gift der Königin in ihre morgendliche Rena-Milch träufelte. Die Königin starb, und wenn es mir nicht dank Wudans Hilfe gelungen wäre, Naura als Mörderin zu entlarven, hätte König Ulfer sie geheiratet und wäre kurz darauf gestorben, und heute säße eine Königin namens Naura auf dem Gödenboorger Thron.«
    »Ist das wirklich wahr?«, flüsterte Jenny. Sie versuchte Johaan in die Augen zu schauen, doch ihr Berater senkte den Blick.
    »Das haben wir in Johaans Haus gefunden.« Miouu hob eine kleine Amphore aus dunkelgrünem Glas hoch. »Wir haben ein wenig von dieser Flüssigkeit einer kranken Androne ins Wasser gegeben. Das Tier starb sofort unter schrecklichen

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