120 - Sterben in Berlin
tief in seine betäubende Umarmung zog, huschte ein Schatten durch die Gassen, löste sich jäh aus Eingängen und Mauernischen, wechselte die Straßenseiten, pirschte sich näher und näher an das kleine windschiefe Häuschen in der Nähe des Südtors.
Eine Wildkatze? Nein, der Schatten ging aufrecht. Ein Waldbewohner auf Diebestour? Warum aber kannte er dann jeden Winkel, jede Ecke und jeden Eingang? Ein Kundschafter aus Pottsdam? Beelinn und Pottsdam standen kurz vor Abschluss eines Bündnisvertrages; kein Pottsdamer Kundschafter hätte den Schutz der Nacht benötigt, um sich ungehindert in Beelinn zu bewegen.
Der Schatten war der Tod, und der Tod in Beelinn hatte viele Namen…
Jetzt kauerte er an der Gartenmauer des kleinen windschiefen Häuschens. Im nächsten Augenblick schon schwang er sich über die Mauerkrone, huschte durch Gemüsebeete bis zum Haus und schlich an der Wand entlang, bis er ein offenes Fenster fand. Er kletterte ins Haus hinein.
Minutenlang lag alles ruhig. Außerhalb der Mauer rauschte der Wind in den Baumwipfeln, ein paar Gassen weiter bellte ein Hund, im Nachbargarten zwitscherte ein Nachtfink.
Plötzlich drang ein unterdrückter Schrei aus dem Haus, dann schlug etwas dumpf auf die Holzdielen. Kurz darauf erschien ein Schatten am offenen Fenster. Etwas im Inneren des Hauses schob ihn über die Fensterbank, bis sein vorderer Teil das Übergewicht bekam, der Schatten aus dem Fenster rutschte und davor im Gras aufprallte.
Ein zweiter Schatten kletterte aus dem Fenster, nahm den ersten auf, schleppte ihn zur Mauer, warf sein Last auf die Gasse hinaus und kletterte schließlich selbst über die Mauer. Er bückte sich nach dem ersten Schatten, hievte ihn sich auf die Schulter. Trotz seiner Last wankte er nicht, während er der Südmauer entgegen huschte.
Dort, an einem Nebentor, stand ein Wachposten. Der schien den Schatten zu erwarten, denn statt ihn zur Rede zu stellen wegen seines nächtlichen Ausflugs und vor allem wegen seiner Last, öffnete er ihm das Tor.
Der Schatten schlüpfte durch den niedrigen Torbogen, hinter ihm schloss sich das Tor. Er lief an der Mauer entlang, bis er die Stelle erreichte, wo das Maiisfeld fast an sie heranreichte. Dort verharrte er, als würde er lauschen, und tatsächlich verhallten über ihm auf dem Wehrgang die schweren Schritte eines Wächters. Erst als sie kaum noch zu hören waren, lief der Schatten zum Maiisfeld, und dann, im Schutz der hohen Stauden, in den Wald.
Ein Tier brach aufgescheucht durchs Unterholz, zwei Vögel flatterten auf, innerhalb der Stadtmauer stimmte der erste Schwarzvogel sein Morgenlied an. Um diese Zeit erreichte der Schatten eine der vielen Ruinen Beelinns, die sich im Wald außerhalb der Stadtmauern hoch über die Baumwipfel erhoben.
Dort hinein trug er seine Last…
***
Er sah irgendwie witzig aus, der Kerl mit der Augenklappe und den beiden über die Oberlippe ragenden Eckzähnen, wie er dem zweijährigen Knaben auf seinem Arm einen Getreidebrei in den Mund stopfte und gleichzeitig dem dreijährigen Mädchen neben ihm am Tisch zuredete, endlich ihre Wakudamilch zu trinken.
Ja, es sah witzig aus, aber Bulldog fühlte sich nicht witzig dabei, denn Leena, sein Weib, hatte ihm bedeutet, dass er wenigstens diese zwei seiner sieben Kinder zu versorgen hatte, bevor er die drei großen Räume im Erdgeschoss des so genannten Palastes verließ, um seiner Königin zur Verfügung zu stehen.
Leena selbst schien am Ende ihrer Nervenkraft, denn von den anderen fünf Kindern waren zwei krank, eines trotzte, ein viertes zahnte, und nur das älteste, ein neunjähriges Mädchen namens Liusan, ging ihr zur Hand, so gut es konnte. Da mochte Bulldogg fluchen und seine Verpflichtungen beschwören, so viel er wollte – es nützte ihm gar nichts. Seine Frau war nämlich taub.
Vor den Fenstern wich das Grau der verblassenden Nacht dem ersten Sonnenlicht. Schwarzvögel sangen und Sperlinge zwitscherten. Schön und friedlich erhob sich der neue Morgen über der Königssiedlung. Bulldogg misstraute der Idylle. Es gab keinen Frieden in Beelinn, etwas Hässliches lag in der Luft. Der Oberst der Palastgarde spürte es.
Als er aufstand, um seinen breiverschmierten Jüngsten zum Waschtisch zu tragen, sah er drei Gestalten die breite Straße entlang laufen und in den Palastgarten einbiegen. Zwei davon kannte er: Maakus und Wulfgang. Die dritte Gestalt sah kleiner und zierlicher aus, und sie war vollkommen in schwarzes Tuch gehüllt. Alle drei
Weitere Kostenlose Bücher