1200 - Operation Ikarus
allein zurechtkommen.
Aber wie? Was sollte sie tun?
Die Nervosität steigerte sich. Rosy wusste, dass sie sich etwas einfallen lassen musste. Sie war nicht der Mensch, der die Augen einfach nur zudrückte. Man hatte ihr beigebracht, dass der Mensch auch für die Umwelt da war, in der er lebte. Er durfte sie auf keinen Fall zerstören. Jedes Lebewesen, war es auch noch so ungewöhnlich, gehörte zu dieser Umwelt.
Es musste am Leben bleiben. Es musste gerettet werden, wie auch der Engel.
Sie würde immer ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie das Wesen auf dem Balkon liegen ließ.
Also die Tür öffnen, es ins Zimmer holen und dann abwarten, was passierte.
Ihre Hände waren schweißfeucht, als sie den Griff der schmalen Tür umfasste. Rosy verspürte keine direkte Angst, aber mulmig war ihr schon. Bisher hatte sie kein Wort mit dem Engel gesprochen, sie hatte ihn auch nicht berührt, und jetzt, als ihr nach dem Aufziehen der Tür die kalte Nachtluft entgegenschwappte und bei ihr eine Gänsehaut verursachte, wusste sie noch immer nicht, ob sie das Richtige tat.
Egal, es gab kein Zurück mehr!
Der gestrandete Engel hatte mitbekommen, dass sich in seiner Umgebung etwas veränderte. Mühsam hob er seinen Kopf.
Selbst in der Dunkelheit war die Angst in seinem Gesicht zu erkennen. Aber auch die Erschöpfung. Er war nicht grundlos auf dem Balkon gelandet.
Rosy trat einen Schritt ins Freie. Sie war jetzt nahe bei dem Wesen. Es hatte seinen Kopf leicht angehoben und schaute zu der gebückt stehenden Rosy hoch.
Sie blickte nach unten.
Und sie sah, wie sich ein Lächeln auf den Lippen der anderen abmalte. Etwas gequält zwar, aber immerhin, es war ein Lächeln. Und wer lächelte, der wollte anderen Menschen nichts Böses. Überhaupt, wenn hier ein Engel gelandet war, dann konnte er einem Menschen ja nichts Böses antun.
Als Rosy der Gestrandeten eine Hand entgegenstreckte, schaute sie zugleich auf den Rücken. Dort lagen die Flügel zusammengefaltet. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass das keine Flügel waren, wie sie Engel besaßen. Nein, die hier bestanden aus Federn. Aus weichen, langen und hellen Federn. Ein kleines Kunstwerk der Natur wurde ihr hier präsentiert.
Rosy hielt den Atem an. Sie wollte eigentlich nicht von einem Wunder sprechen, aber in diesem Fall traf es zu. Ja, hier war ein Wunder geschehen. Das Wunder eines Menschen, der kein Mensch war. Je länger Rosy sich damit beschäftigte, umso überzeugter wurde sie. Und sie gehörte zu den Menschen, die das Wunder hautnah miterleben durften. Das war einfach nicht zu fassen. Sie wollte auch nicht darüber diskutieren oder weiterhin nachdenken. Sie nahm es einfach so hin, und als sie über die Federn hinwegstrich - das musste sie einfach tun -, da erhielt sie wieder eine Gänsehaut, die vom Kopf bis zu den Füßen lief. Wie wundervoll die Federn doch waren. So herrlich weich. Als hätten sie weder eine Gestalt noch ein Gewicht.
Die Person war schwach. Sie konnte aus eigener Kraft kaum aufstehen. Und so bemühte sich Rosy, der Fremden auf die Beine zu helfen. Sie bekam von ihr nur wenig Unterstützung, und sie hörte dabei das heftige Keuchen aus ihrem Mund.
Deshalb zog sie ihren neuen Gast in das Zimmer hinein. Der Körper war nicht besonders schwer, trotzdem musste sie sich anstrengen, um ihn endlich über die Schwelle in das Zimmer zu ziehen, wo es viel wärmer war.
Rosy wollte ihren Gast nicht auf den Boden legen. Nicht weit vom Bett entfernt, stand der mit buntem Stoff überzogene Sessel. In ihn drückte sie den »Engel« hinein.
Rosy schloss die Tür und kümmerte sich um das Licht. Sie wollte nicht im Dunkeln mit ihrem Gast zusammenbleiben, deshalb schaltete sie das Licht einer Stehleuchte an. Es reichte aus, um dem Zimmer die Dunkelheit zu nehmen.
Das Wesen saß im Sessel und hatte die Beine von sich gestreckt. Es atmete jetzt ruhiger, und wieder kam Rosy der Gedanke, dass Engel doch nicht zu atmen brauchten. Sie waren keine Menschen, sondern Wesen, die sich in einer Sphäre zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Dasein aufhielten. So jedenfalls hatte sie es gehört. Aber das musste nicht stimmen.
Sie hoffte auch nicht, dass die schmale Gestalt im hellen Kleid nicht aus irgendeiner weit entfernten Gegend kam und ihre Sprache nicht verstand. Das wäre nicht gut.
Wie soll ich sie ansprechen?, überlegte Rosy. Welche Frage soll ich ihr als erste stellen?
Ihr schoss einiges durch den Kopf. Nur wusste sie nicht, ob sie nicht
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