1200 - Operation Ikarus
wenn Rosy Zeit genug gehabt hätte, darüber nachzudenken, aber das hatte sie nicht. Jetzt ging es um Leben und Tod, und Rosy stellte ihre Gedanken und Bedenken ab. Sie handelte jetzt rein automatisch. Neben ihr auf dem schmalen Balkon hatte sich Carlotta gebückt, sodass es ihr leichter fallen würde, auf den Rücken zu steigen.
Carlotta war etwas größer. Sie stöhnte auch nicht unter Rosys Gewicht, sondern stemmte die Hände gegen das Gitter.
»Bewege dich jetzt nicht. Und leg dich nicht auf meine Flügel, hast du gehört?«
»Ja«, flüsterte Rosy zitternd. Sie hatte sich so klein wie möglich gemacht. Rechts und links huschten plötzlich zwei Schatten in die Höhe. Es waren die Flügel, die sich bewegten, auch Carlottas Beine verloren den Kontakt mit dem Boden.
Dann ließ sie das Geländer der Balkonbrüstung los.
Hinter ihnen krachte es. Dann hörten sie einen wütenden Schrei. Ein erneutes Krachen, dem ein anderes Geräusch folgte, denn der Verfolger hatte es geschafft, die Tür aufzubrechen. Carlotta stieß sich ab!
Rosy sackte zusammen mit ihr in die Tiefe. Zuerst wollte sie schreien, aber nichts drang aus ihrem Mund. Es war einfach unglaublich, zu schön, zu, zu…
Ihr fiel kein Vergle ich mehr ein.
Eines aber stand fest.
Sie flogen…
***
Babur war nicht nur sauer, er stand dicht vor einer Explosion.
Dass er von zwei Teenagern hereingelegt worden war, rüttelte schwer an seinem Selbstvertrauen. Das war ihm noch nie passiert. Er hatte sie nach oben fliehen sehen. Leider etwas zu spät. So war es ihm nicht mehr möglich, sie auf der Treppe einzuholen.
Mit langen Sätzen jagte er die Stufen hoch. Und musste wieder erleben, dass sie für den Moment schlauer gewesen waren als er. Denn er hörte, wie eine Tür zugeschlagen wurde.
Die richtige hatte er schnell gefunden - und fluchte, als er merkte, dass sie abgeschlossen war. Aufbrechen. Das kostete Zeit. Er schaffte es leider nicht beim ersten Versuch. Der zweite aber gelang. Mit der Tür zusammen fiel er in das Zimmer hinein, und sein Blick fiel dabei auf die offene Balkontür.
Er sah sie noch.
Zwei Mädchen. Eine lag auf Carlottas Rücken, und die beiden Flügel bewegten sich.
Babur stieß einen irren Schrei aus. Er verfluchte sich zugleich dafür, dass er sein Gewehr im Wagen gelassen hatte. Jetzt konnte er sich nur auf seine Pistole verlassen, die kein Zielfernrohr besaß. Er riss die Glock hervor und wäre beinahe noch über die Brüstung nach vorn gestürzt, mit so viel Schwung war er auf den kleinen Balkon geschliddert.
Sie waren da. Er sah sie. Sie schwebten auch in der Luft, aber Carlotta war geschickt vorgegangen. Sie hatte sich dem Boden entgegensinken lassen, denn dort gab es mehr Deckung. Die Schatten der Bäume saugten sie ebenso auf wie hohe Hecken.
Und sie waren schon ziemlich weit weg.
Babur ließ seine Waffe sinken. Es hatte keinen Sinn, das Magazin leerzufeuern, denn auf Zufallstreffer wollte er sich keinesfalls verlassen.
Wieder fluchte er. Diesmal leiser, sodass er den anderen Laut hinter sich hörte. Ein klägliches Miauen.
Babur drehte sich herum.
Der kleine Kater stand vor ihm und starrte ihn an. Er miaute wieder. Für den Killer hörte es sich an, als wollte ihn das Tier verhöhnen. Er war nicht mehr bei Sinnen, hob den rechten Fuß und trat voll zu.
Die Spitze erwischte den kleinen Kerl. Die Wucht schleuderte ihn in das Zimmer hinein, und der kleine Kater klatschte gegen die Wand wie ein feuchter Lappen.
Er schrie noch einmal jämmerlich. Dann schlug er auf dem Boden auf und rührte sich nicht mehr.
Babur gönnte dem Tier keinen Blick. Ihm war es egal, wen er tötete, sei es nun ein Mensch oder eine Katze. Das Leben anderer interessierte ihn nicht.
Nur seines war wichtig. Und natürlich der Job. Carlotta und das andere Mädchen waren ihm entwischt. Zunächst. Aufgeben würde er nicht. Er würde sie finden, und wenn er bis ans Ende der Welt laufen musste…
***
Ich fliege - ich fliege!, dachte Rosy.
Nein, ich fliege nicht. Ich werde geflogen. Ich liege auf dem Rücken eines Menschen, der fliegen kann. Ich klammere mich an seinen Schultern fest. Ich sehe die Flügel, die sich neben mir bewegen. Ich spüre den Wind, der in mein Gesicht bläst. Ich sehe die Sterne über mir und unter mir die Dächer und Gärten der Häuser. Ich kann das Meer sehen und auch die Lichter der Stadt. Es ist wie ein Wunder für mich. Etwas hat sich geöffnet, und ich kann das erleben, was ich nie zu träumen gewagt habe.
Aber es
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