1200 - Operation Ikarus
trat Rosy noch an den Korb ihres Katers. »Sei lieb, Napoleon. Sei sehr lieb. Ich komme bald wieder und hole dich. Dann bringe ich dich zu Dr. Wells. Sie wird sich um deinen kranken Fuß kümmern.«
Napoleon miaute und leckte Rosys Finger, als wollte er von ihr Abschied nehmen.
»Lass uns gehen!«, drängte Carlotta. »Dieser Mörder Babur ist verdammt schnell und geschickt.«
Rosy biss die Zähne zusammen. Da war der verdammte Name wieder gefallen. Sie holte tief Luft und war als Erste an der Tür.
In der ersten Etage und auch im Bereich des Eingangs war es dunkel bis auf eine Lampe im unteren Flur, die weiches Licht verstreute, das von hier oben meilenweit entfernt aussah.
Rosy kannte sich aus. Mit einem Griff hatte sie den Lichtschalter gefunden, und es wurde hell.
Ihr Vater, der Architekt, hatte das Haus nach seinen Vorstellungen gebaut. Man konnte von oben herab bis in den Flur unten schauen, weil keine Zwischendecken vorhanden waren. Es war der Blick wie in einen Schacht, der von zwei Treppenaufgängen umrahmt wurde. Holzpfähle bildeten Stützen. Der Bauherr hatte fast ausschließlich Holz als Material verwendet, und der Geruch verteilte sich überall im Haus.
Es war still. Nichts drang von außen her in das Haus hinein.
Nur das Holz arbeitete nach. Ab und zu war ein Knacken zu hören, das die beiden Mädchen allerdings nicht störte.
Rosy Mills warf einen Blick über das Geländer hinweg nach unten. »Ich gehe vor«, flüsterte sie.
»Ja, schon gut.«
Rosy spürte den Atem der neuen Freundin im Nacken. Wenn sie an deren Schicksal dachte, konnte sie nur den Kopf schütteln. Was musste dieses Mädchen alles mitgemacht haben? Welch eine Erziehung hatte es hinter sich? Wie war es überhaupt geboren worden und von wem? Wer war die Mutter, wer der Vater?
Fragen, auf die sie jetzt sicherlich keine Antwort finden würde, wenn sie nachhakte. Aber später mal bestimmt. So leicht würde sie Carlotta nicht loslassen. Zu viel stand da noch offen. Obwohl Rosy erst zwölf war und im nächsten Monat dreizehn wurde, ahnte sie schon, dass sie hier etwas erlebte, das einmalig auf der Welt war. Menschen wie Carlotta gab es sonst nur in Romanen oder in Filmen. Sie in der Realität zu erleben, war schon das absolut Größte überhaupt. Man konnte staunen, sich aber auch davor fürchten.
Sehr oft war Rosy die Treppe nach unten gegangen, aber niemals mit dieser Vorsicht. Sie musste immer wieder an den Killer denken. Obwohl sie ihn nicht kannte, stellte sie ihn sich als unheimlichen und bösen Menschen vor. Dunkel gekleidet.
Einer, der nur den Tod kannte und das normale Leben verachtete.
Schauer rannen ihr über den Rücken. Selbst die bunten Bilder an den Flurwänden konnten sie nicht aufheitern. Zum ersten Mal atmete sie auf, als sie auf dem gemusterten runden Teppich standen, der den Eingangsbereich markierte. Über ihn musste man gehen, wenn man zur Tür wollte.
Auch sie besaß einen Holzrahmen, war jedoch in der Mitte mit einem Glaseinsatz versehen, weil ihre Eltern ein luftiges Haus haben wollten. Im Licht der modernen weißen Stehleuchte, in die eine gelbe Birne eingedreht worden war, sahen die Gesichter der beiden Mädchen käsig aus. So fühlte sich Rosy auch.
Aber sie riss sich zusammen. Sie wollte nicht jammern. Noch war ja nichts passiert, obwohl es ihr schon im eigenen Haus verdammt unheimlich war.
»So, wir haben es geschafft, Carlotta. Wenn wir draußen sind, müssen wir uns nach links wenden. Der Fußweg bis zu der Ärztin ist nicht weit.«
»Moment mal.«
»Wieso?«
Carlotta sagte zunächst nichts. Dann hob sie die Schultern, drehte sich im Kreis, und ihr Blick bekam etwas Lauerndes.
»Es gibt Gefühle, es gibt Gerüche, Rosy. Wir haben sie alle, aber bei mir sind sie stärker. Weiß auch nicht genau, wie das gekommen ist. MUSS wohl mit meinen Flügeln zusammenhängen oder mit den neuen anderen Genen, wie auch immer.«
Rosy war irritiert. »Was erzählst du denn da für komische Sachen? Kennst du dich aus?«
»Nur etwas.«
»Und warum hast du mir das mit deinen Gefühlen und Genen alles gesagt?«
»Weil ich ihn spüre.«
Rosy verstand. »Den Killer!«
»Ja, ihn.«
Rosy wusste zunächst nicht, was sie erwidern sollte. Sie hatte nichts bemerkt, was nicht hieß, dass Carlotta besser war als sie.
Durchaus möglich, dass der Killer ihre Spur gefunden hatte.
Und wenn er sie dann hatte, würde er keine Gnade kennen.
Da Carlotta nichts sagte, stellte Rosy die Frage: »Wie sollen wir uns denn
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