1200 - Operation Ikarus
Der Professor hatte stets von einem kleinen Kunstwerk gesprochen, und irgendwie musste der Killer ihm Recht geben.
Sie hätte für die Ewigkeit sein können oder so ähnlich, doch durch ihre Eigeninitiative hatte sie alles zerstört, und sie würde vor allen Dingen sich selbst zerstören.
Er wartete noch ab.
Er sah sie so nah. Sie suchte etwas. Der Blick war nach unten gerichtet, und sie war kaum in der Lage, sich noch in der Luft zu halten.
»Ein zu langer Flug, Mädchen«, flüsterte der Killer.
Sein Finger lag am Abzug. Ein kleiner Druck würde reichen, und die Sache war erledigt.
Babur wollte auf Nummer sicher gehen und zielte deshalb auf ihren Kopf. Die Kugel würde das hübsche Gesicht zerfetzen und nichts mehr von ihm übrig lassen.
Er lächelte.
Er wurde noch ruhiger.
»Gleich bist du tot, Carlotta!«, flüsterte der Killer und drückte eine Sekunde später ab…
***
Treffer!
Oder doch nicht?
Er sah sie nicht fallen. Er hatte nicht gesehen, dass ihr Gesicht durch den Einschlag des Geschosses zerstört wurde. Es war einfach alles anders gekommen, und als er wieder hinschaute, da war sie verschwunden. Nicht mehr zu sehen - weg!
Fehlschuss!
Dieses Wort bohrte sich in seinen Kopf. Noch nie hatte er vorbeigeschossen. Obwohl es mit seiner Ruhe vorbei war, wirkte er nicht hektisch. Er suchte den Körper, den er nicht hatte fallen sehen. Deshalb musste er noch in der Luft sein.
Babur wechselte das Gewehr gegen das Fernglas. Bevor er zu einem zweiten Schuss kam, musste er das Objekt wiederfinden.
Wo war sie? Er suchte, er hatte es jetzt eilig, und er fand sie wieder.
Aber da flog sie und lag nicht tot auf einem Hausdach, wie er es sich gewünscht hatte.
Ein Fluch verließ seinen Mund. Er hatte Carlotta, und er hasste sich selbst. Trotzdem hatte er noch Glück. Carlotta hätte sich auch ein tiefer liegendes Ziel aussuchen können als das Haus, das an einer recht exponierten Stelle stand. In seinen Schatten sackte sie mit flattrigen Flügelschlägen ein und tauchte auch nicht wieder auf. So stand es für den Killer fest, dass Carlotta einen Ausweg gefunden hatte und ihm durch die Lappen gegangen war.
Er fluchte nicht.
Er war wieder eiskalt und dachte schon an die Zukunft, die für ihn noch in dieser Nacht lag. Babur war kein Mensch, der so leicht aufgab. Es war Zeit genug. Die Dunkelheit hielt noch an, und er wollte sie ausnutzen.
Noch einmal schaute er sich die Gegend an, in der sich Carlotta versteckt hielt. Dort standen zwar mehrere Häuser, aber die freien Räume zwischen ihnen waren groß genug.
»Einmal bist du mir entwischt, Kleine, ein zweites Mal nicht mehr!« Der Killer ließ das Glas sinken. Er packte das Gewehr in den Wagen und stieg ein.
Wer auch immer Carlotta zu sich ins Haus genommen hatte, er war schon jetzt so gut wie tot. Zeugen hatte Babur bei seinen Taten nie hinterlassen…
***
Wird gejagt und getötet!
Der Satz wollte Rosy nicht aus dem Kopf. Aber sie hatte ihn gehört, und jetzt sah sie, wie Carlotta nickte, bevor sie ihn noch mal mit leiser Stimme wiederholte.
Rosy Mills war zwar frei, aber doch in einer recht sicheren und behüteten Welt aufgewachsen. Mit Mord und Totschlag hatte sie nie etwas zu tun gehabt. Zwar wusste sie, dass die Welt nicht perfekt war, aber das Grauen war an ihr vorbeigelaufen. Sie interessierte sich mehr für andere Dinge.
Ein Sender wie MTV war für sie wichtiger als ein Nachrichtenkanal.
»Warum schaust du mich so an?«, fragte Carlotta.
»Weil ich einfach nicht glauben kann, was du mir da gesagt hast.«
»Das stimmt aber.«
Ihr Weltbild passte nicht in Rosys. »Wieso will man dich denn töten, Carlotta?«
»Weil wir etwas Besonderes sind und niemand über uns Bescheid wissen darf. Zumindest jetzt noch nicht. Später schon, aber nicht heute. Wir müssen im Home bleiben. Wer flieht, der hat sein Leben verwirkt. So ist das nun mal.« Sie hatte die Erklärung sehr gelassen gegeben und hob auch jetzt die Schultern an, wie jemand, der sich in sein Schicksal gefügt hatte.
Rosy verstand ihre kleine Welt nicht mehr. Auch Carlotta nicht. Sie konnte nicht älter sein als sie, vielleicht sogar jünger, aber sie sprach bereits wie eine Erwachsene. Klar, sie hat auch ein ganz anderes Leben geführt, dachte Rosy. Sie ist anders aufgewachsen als ich, das alles kommt zusammen. Deshalb auch ihre Reaktionen.
Dennoch, was da aus ihrem Mund gedrungen war, konnte Rosy einfach nicht fassen.
Fast lächelnd schaute Carlotta die neue Freundin an.
»Du hast
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