1205 - Wer die Totenruhe stört
der Motor lief noch nicht. Und in der Stille waren die Hilfeschreie besonders deutlich zu hören. Vom Friedhof her wehten sie zu uns herüber…
***
Craig Averell konnte es noch immer nicht fassen, dass er nicht in die Spalte gerutscht war. Nach wie vor baumelten seine Füße ohne den geringsten Halt in der Luft. Er stemmte sich mit den angewinkelten Armen auf, und sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Er glaubte fest daran, dass ihm das Schicksal nur einen kurzen Aufschub gegeben hatte. In naher Zukunft würden ihn die Kräfte verlassen, und ob die Ränder weiterhin hielten, war auch noch die große Frage.
Die Angst hatte bei ihm zu Schweißausbrüchen geführt. Er verhielt sich still. Jede Bewegung konnte ein Abrutschen und den sicheren Tod bedeuten. Sein Herz schlug viel schneller als gewöhnlich. Der Schweiß brannte in seinen Augen, er hörte sich keuchen, und er dachte daran, dass er etwas tun musste.
Sich hochdrücken und sich dann in Sicherheit schieben. Eine andere Möglichkeit gab es einfach nicht.
Das bedeutete eine gewaltige Kraftanstrengung. Er fragte sich, ob er diese Kraft noch besaß und ob auch die Ränder weiterhin hielten.
Noch startete er keinen Versuch. Er wollte in die Tiefe schauen. Vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit. Wenn die Wände zusammenwuchsen und dabei sehr rissig waren, konnte er sie unter Umständen wie eine Trittleiter benutzen und sich hochkämpfen.
Craig senkte den Kopf und schaute an seinem eigenen Körper in die Tiefe. Dieser Schacht gab ihm keine Hoffnung. Er wuchs in seiner Sichtweite zumindest nicht zusammen wie ein Trichter. Aber er entdeckte ein anderes Phänomen. Die Seitenwände des Schachts waren alles andere als glatt. Sie zeigten Risse, kleine Höhlen, auch Vorsprünge. Er sah altes Wurzelwerk aus den Seiten hervorragen wie die dürren Totenfinger alter Leichen.
Das war es nicht, was ihn zum zweiten Mal schockte. Ein anderes Phänomen raubte ihm den Atem, obwohl er dies schon auf der Fahrt erlebt hatte.
Im feuchten Lehm der Schachtwände klebten an verschiedenen Stellen die hellen Totenschädel. Er zählte sie nicht, aber er verfolgte sie und sah, dass sie sich bis in die Tiefe hinzogen.
Dorthin drang kein Licht mehr. Er sah nur die blanken Schädel, die sich in die Masse regelrecht eingegraben hatten.
Das makabre Bild ließ ihn für einen Moment seine eigene Lage vergessen. In den Schädeln waren keine Augen mehr vorhanden. Trotzdem überkam ihn der Eindruck, als wären die Köpfe dabei, ihn einfach nur anzuglotzen.
Die Entdeckung ließ einen Schwall der Angst in ihm hochschießen. All die Toten mit ihren blanken Schädeln und den verdammten bleichen Gebeinen wollten ihn als Beute, damit er im Dunkel der Erde und der verdammten Gräber sein Leben aushauchte.
In diesem Augenblick erlebte er den ersten Ruck an seinen aufgestützten Armen.
Die Erde, gegen die er sich gestemmt hatte, gab ein wenig nach. Er hatte schreckliche Angst davor, in die Tiefe zu fallen.
Sein Mund stand weit offen, die Zunge war nach vorn gedrängt. Er spürte einen kalten Tropfen auf der Spitze. Er merkte auch, wie es heiß und kalt über seinen Rücken lief, und wieder gab die Erde am Rand etwas nach, sodass er tiefer rutschte.
Er schrie. Dann drückte er sich höher. Oder unternahm zumindest den Versuch und war für einen Moment zufrieden, dass es auch geklappt hatte.
Dann unternahm er einen anderen Versuch, indem er die Beine leicht spreizte, um mit den Füßen vielleicht einen Halt an den Innenseiten zu finden.
Es ging nicht. Der Schacht war zu breit. Er streifte die Inne nwände, mehr passierte nicht. Gleichzeitig gab die Erde an seinen Ellenbogen leicht nach, aber mit viel Glück und auch mit Kraft konnte er sich noch halten.
Nicht mehr lange.
Craig wusste nicht mehr, was er noch unternehmen sollte. In seiner Verzweiflung gellten die Hilfeschreie über den leeren Friedhof hinweg. Er brüllte sich die Stimme aus dem Hals. Er war völlig von der Rolle und reagierte nicht mehr normal. Oder normal in dieser Lage, denn wie ein mächtiges Tier hatte ihn die Panik angesprungen. Es stand für ihn fest, dass er sich aus eigener Kraft nicht mehr würde befreien können. So gellten seine Hilferufe wie eine letzte, verzweifelte Reaktion über den menschenleeren Friedhof hinein in das weite Land…
***
Wir rannten, und wir waren verdammt nicht langsam. Wir hatten beide zu unterscheiden gelernt, wie wichtig man Hilferufe nehmen muss. In diesem Fall klangen sie
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