1212 - Niemand hört die Schreie
zurückwich.
»Gehen Sie endlich in Ihr Haus! Hören Sie auf mit Ihrem schwachsinnigen Gerede. Was hier in der Kiste liegt, ist eine Leiche. Wir haben sie selbst hochgehoben und reingelegt. Mag sein, dass sie noch jung ist, aber darauf nimmt der Tod keine Rücksicht. Verdammt, warum begreifen Sie das nicht?«
»Weil ich es besser weiß!«
»Nein!«
Die alte Frau zeigte sich stur. Sie blieb stehen, hob den rechten Fuß an und stellte ihn auf die Totenkiste.
Oh, das sah mir nach einer mehr als verbalen Auseinandersetzung aus. Ich war gespannt, wie die beiden Männer reagierten.
Eigentlich hätten sie jetzt ihren Chef anrufen müssen, nur das taten sie nicht. Sie blieben in Konfrontation mit der älteren Frau, deren Augen funkelten, was selbst mir auffiel.
»Nehmen Sie den Fuß da weg!«
»Nein!«
Der Mann, der gesprochen hatte, zischte einen Fluch. Er war ziemlich kräftig. Die ältere Frau bedeutete für ihn kein Hindernis. Er wollte sie aus dem Weg haben und griff zu.
Fast hätte sie der plötzliche Stoß zu Boden geschmettert, aber er fing sie mit der anderen Hand ab und kümmerte sich nicht um ihr Wehgeschrei.
»Das war eine Warnung!«, zischte er ihr ins Gesicht und hatte den Kopf dabei vorgebeugt. »Ich hoffe, Sie haben meine Worte verstanden. Die Leiche nehmen wir mit! Ist das klar?«
»Das werde ich nicht zulassen!«
Schlug er zu? Beide standen sich gegenüber, aber der Mann beherrschte sich. Er packte nur das rechte Handgelenk mit einem schnellen Griff und drehte es ebenso schnell herum, zusammen mit dem Arm. Es war der berühmte Polizeigriff, dem die ältere Frau nichts entgegenzusetzen hatte. Sie stöhnte zum Steinerweichen auf und beugte sich dabei nach vorn.
»Okay«, sagte der Typ. »Meine Geduld ist am Ende. Ich werde Sie jetzt ins Haus schaffen und einsperren, Sie alte grantige Schachtel. Wir lassen uns von Ihnen nichts kaputt machen. Wäre ja noch schöner. Da könnte ja jeder kommen und uns behindern. Sie können froh sein, dass Sie so alt sind, sonst sähe es anders aus.«
Die Frau konnte nichts mehr erwidern. Der Schmerz ließ sie aufstöhnen.
Das hörte auch ich.
Was immer hier ablief, wer immer hier Recht oder Unrecht hatte, im Augenblick war das sekundär. Ich hasste es nur, dass die ältere Frau so hart angefasst wurde, denn das ging mir gegen den Strich. Dagegen musste ich etwas tun.
Ich öffnete die Fahrertür und stieg aus. Zwei Schritte ging ich, erst dann fing ich an zu sprechen.
***
Eine Antwort bekam ich zunächst nicht, und so ging ich erst einmal weiter. Der Kerl, der die ältere Frau fest hielt, rührte sich nicht von der Stelle. Aber er hatte noch einen Kollegen, und der fühlte sich für mich zuständig.
Um mich zu erreichen, stieg er über den Sarg und stand plötzlich zwischen der Frau und mir. Er breitete seine Arme aus und fühlte sich wohl wie ein Polizist, der den Verkehr stoppen will, weil die Ampel ausgefallen ist.
»Das dürfen Sie nicht, Mann! Hauen Sie ab! Hier ist alles im grünen Bereich. Wir haben nur jemand, der sich ein bisschen blöde anstellt, das ist alles.«
Ich schaute mir den Knaben an. Er war ebenso groß wie ich und hatte blondes Haar, das zurückgekämmt war. Im Gesicht fiel mir der rechte Mundwinkel auf, der ständig zuckte.
»Finden Sie es nicht unfair? Zwei Männer wie Sie gegen eine ältere Dame?«
»Es ist ihre Schuld. Oder haben Sie nicht gehört, was sie für einen Schwachsinn redet?«
»Aus ihrer Sicht ist es das wohl nicht - oder?«
»Hören Sie auf. Wir wissen das besser.«
»Wissen Sie wirklich genau, ob in dem Sarg eine völlig normale Leiche liegt?«
»Ja, das weiß ich!«
»Aber die Lady denkt anders darüber.«
»Das interessiert uns einen Scheißdreck!«
»Meinen Sie nicht, dass sie ihre Gründe hat?« Ich blieb weiterhin ruhig und sogar freundlich.
Der Kerl reckte das Kinn vor. »Setz dich in deinen Wagen, Mister, und hau ab.«
»Ich komme schlecht vorbei«, erklärte ich lächelnd.
»Dann warte eben, bis wir hier unseren Job erledigt haben. Du kannst auch wenden und zurückfahren.«
»Könnte ich…«
»Dann tu es!«
»Nein, denn ich möchte mich gern mit der älteren Frau unterhalten. Und sagen Sie Ihrem Kollegen, dass er sie loslassen soll. Das ist doch unwürdig für ihn.«
»Sie ist nicht tot. Sie ist nicht tot. Nein, sie ist nicht tot…«
Wieder hörte ich die Stimme der Frau, die dann von einer anderen abgelöst wurde.
»Verpiss dich!«, blaffte mich der Typ vor mir an.
Ich ging auch zurück.
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