1238 - Justines Blutfest
sah den alten Mann nicht, sie hörte ihn auch nicht, aber Orson Finlay war plötzlich da. Er tauchte hinter dem Blutsauger auf, der sich so schnell nicht drehen konnte.
Orson setzte ihm die Mündung der Waffe an den Hinterkopf.
»Es tut mir Leid, Tom!«, sagte er.
Dann drückte er ab!
Amy hörte den Schuss und schloss die Augen. Es war besser so, denn so konnte sie nicht sehen, was passierte. Sie stand auch so weit von dem Blutsauger entfernt, dass sie nicht von dem getroffen wurde, was aus dem Kopf hervorspritzte.
Erst als sie einen dumpfen Aufprall hörte, öffnete sie die Augen wieder.
Da lag ihr Vater am Boden. Oder die Gestalt, die mal ihr Vater gewesen war.
Orson Finlay stand neben der Gestalt. Den rechten Arm mit der Waffe, hatte er gesenkt. In seinem Gesicht bewegte sich nichts, aber in seinen Augen schimmerten Tränen, und Amy war froh, dass es jemanden gab, der sie auffangen konnte…
***
So fanden wir die beiden vor, als wir das Gasthaus betraten.
Am Tisch daneben saß Dean Pollack mit schmerzverzerrtem Gesicht und hielt sich die Schulter.
Auf dem Boden lag Tom Carry. Tot oder erlöst. Die geweihte Silberkugel hatte ihn in den Hinterkopf getroffen.
Orson Finlay nickte uns zu, bevor er Amy losließ, die nicht auf ihren Vater schaute, sondern mit zittrigen Schritten zu einem Stuhl ging und sich setzte. Dort blieb sie hocken, bleich im Gesicht, ins Leere schaue nd, und tief in ihrem Innern versunken, als hätte sie dort eine Welt gefunden, die ihr Trost und Halt gab.
Ich sah, dass auch der alte Mann seine Tränen nicht hatte zurückhalten können. Mit erstickter Stimme sprach er mich an.
»Tom ist tatsächlich ein Vampir gewesen. Die blonde Bestie hat es geschafft. Verdammt, sie ist stärker als ich angenommen habe. Sie wird…«
»Nein, sie wird nichts«, sagte ich, »denn sie hat die Insel verlassen.«
»Bitte?«
»Ja.«
»Wie denn?«
Ich winkte ab. »Das ist egal. Geh einfach davon aus, dass sie nicht mehr hier ist.«
»Wenn du das sagst, glaube ich dir.«
Auch er musste sich setzen. Suko bückte sich und zog das Gefäß mit den Blutegeln zu sich heran. Er hielt es hoch und fragte mich: »Was machen wir damit? Hast du einen Vorschlag?«
»Ja. Vernichten.«
»Und der Highland-Vampir?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Je weniger von seinem Blut übrig ist, desto besser.«
»Wie und wo?« Mein Freund sah mich fragend an.
»Nimm die Peitsche, Suko.«
Wir gingen nach draußen und nahmen das Gefäß mit. Vor der Tür umhüllte uns der Nebel. Ich öffnete den Deckel, damit Suko freie Bahn hatte.
Noch wussten wir nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, ob die Egel tatsächlich mit Vampirblut gefüllt waren. Das würde sich bald herausstellen, wenn sie mit Sukos Peitsche in Berührung kamen.
Er fasste die drei Riemen so an, dass sie eng zusammenlagen.
Dann tauchte er sie in das Gefäß ein.
Wir hörten beide ein Zischen und zuckten zurück. Suko zog die Riemen wieder hervor. Ich leuchtete mit der kleinen Lampe in das Gefäß hinein und sah, was passierte.
Die Egel zogen sich zusammen. Sie krümmten und bewegten sich wie Würmer, und sie verloren ihre schmierige, dunkle Farbe. Sie trockneten aus. Dampf stieg uns entgegen. Wir rochen ein widerliches Zeug. Altes Blut verdampfte und drang in den Nebel ein. Wir mussten rund zwei Minuten warten, bis sich der Qualm gelegt hatte.
Jetzt lag auf dem Grund des Gefäßes nur noch grauer Staub, der aussah wie zusammengedrückte Spinnweben.
»Wenn Orson es will, kann er das Gefäß ins Meer kippen«, sagte Suko, »wir haben damit nichts mehr am Hut.«
Da stimmte ich ihm zu. Wir hatten getan, was wir konnten, aber wenn wir Coomb Island verließen, dann war nichts mehr so wie die Menschen es hier kannten.
Trotzdem hätte es schlimmer kommen können. Das war allerdings nur ein schwacher Trost.
Noch etwas: Von dem Highland-Vampir hörten wir erst wieder als Monate vergangen waren. Aber das ist eine andere Geschichte…
ENDE des Dreiteilers
Weitere Kostenlose Bücher