1239 - Bilderbuch des Schreckens
hart, wie Suko es am eigenen Leib verspürt hatte.
Der Waldmann bewegte sich auch. Dabei blieben auch die Blätter seiner Kleidung nicht ruhig, und so entstand ein leises Rascheln.
Suko wusste, dass er als Überraschungsgast in diese Welt hineingeschafft worden war, und er wusste auch, dass die Überraschung noch nicht vorbei war, sonst hätte ihn der Junge nicht aus so großen Augen angestarrt.
Für Suko war der Junge wichtig. Er würde ihm auch erklären können, was hier genau passiert war, und deshalb wandte er sich an ihn.
»Du bist Tommy Olden?«
»Ja, das bin ich.«
»Okay, ich bin Suko.«
»Ich kenne dich nicht.« Die Stimme des Jungen hatte abweisend geklungen. »Was willst du hier?«
»Deine Mutter macht sich Sorgen um dich.«
»Das braucht sie nicht!«, erklärte Tommy bockig.
»Doch, Tommy. Mütter machen sich immer Sorgen um ihre Kinder. Da können die noch so erwachsen sein. Ich hoffe, du hast das verstanden, mein Lieber.«
»Ja, habe ich. Aber ich will es nicht, verdammt. Nein, ich will das nicht einsehen. Es geht mir gut. Ich bin hier, und hier gehöre ich auch hin.«
»Nein, du gehörst nach Hause.«
»Sag nicht so etwas!«, zischte er Suko an. »Hier ist mein Zuhause. Mein neues und mein altes, verstehst du das? Hier fühle ich mich so wohl wie nirgendwo auf der Welt. Ich hasse es, wenn ich nicht hier sein kann. Ich gehöre dazu.«
»Wenn du das sagst. Aber zu wem gehörst du, Tommy?«
Der Junge gab keine direkte Antwort. Er bewegte nur seine Augen und schielte zu dem Knöchernen hinüber.
»Zu ihm?«, fragte Suko erstaunt. Er tat sehr unwissend, obwohl er gewisse Zusammenhänge schon ahnte.
»Ja, zu ihm. Er und ich, wir sind aus dem gleichen Holz, hat er gesagt. Ich habe so viel von ihm, ich bin sein Erbe, und ich werde dieses Erbe auch annehmen.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Es ist dein Vater, nicht wahr? Das Skelett war mal Charles Olden.«
»Genau. Du weißt Bescheid. Wer hat dir das alles gesagt? Meine Mutter?«
»Nein, nicht wirklich. Ich habe nur gewisse Dinge zusammenzählen können, und das ist dann dabei herausgekommen. Ich weiß, dass dein Vater verschwand, doch nicht so wie es deine Mutter angenommen hat. Es gibt ihn noch. Er hat sich nur zurückgezogen - oder?«
»Genau, genau, das hat er. Er wusste, was er tun musste. Er hat sich immer damit beschäftigt. Er hat einen Weg gefunden, um die Gestalten zu erreichen, die er so liebte. Vor langer, langer Zeit hat es hier anders ausgesehen. Hier war ein magischer Ort. Hier fanden Rituale statt, hier sind Geschichten passiert, und es hat jemand gegeben, der diese Geschichten aufgezeichnet hat. So ist ein Buch entstanden. Ein Bilderbuch, das von einer wunderschönen Welt berichtet. Mein Vater besitzt es. Ich habe gesehen, wie er es aufblätterte, und dann konnte ich erleben, dass es all die Gestalten, die in diesem Buch nur als Bilder zu sehen waren, tatsächlich gibt. Den Kugel-Kobold, den Glasmann, den Waldmann und die Hexe. Aber du gehörst nicht zu uns!« Die Stimme des Jungen erhielt einen trotzigen Klang. »Nein, du gehörst nicht zu uns, denn du bist ein Fremder, ein Eindringling, ein Böser. Und so etwas können wir nicht zulassen. Wir lassen uns unsere Welt nicht zerstören!«
Suko merkte, dass die Lage kippte. Er wollte den Jungen nicht eben zum Feind haben und suchte nach Argumenten, um die Dinge wieder richtig zu stellen.
»Bitte, Tommy, ich will deine Welt nicht zerstören. Nur…«
»Doch!«, schrie der Junge ihn an. »Das willst du! Ich habe alle vier Wochen die Chance, mit meinem Vater zu reden. Dann kehrt die alte Magie, die es hier schon seit den Zeiten der Druiden gibt, zurück. Da öffnet sich dann das Tor zum Geisterreich, in das auch mein Vater eingegangen ist. Ich werde sehend. Ich bin sein gelehriger Schüler, und ich bin auch sein Erbe. Das alles lasse ich mir nicht zerstören. Es sind meine Geheimnisse, es sind meine Freunde und…«
Als Tommy anfing zu husten, hatte Suko endlich Gelege nheit, einzugreifen. »Nein, Tommy, so darfst du nicht reden. Es ist keine Welt für dich. Das Buch ist nicht gut. Es ist ein Bilderbuch des Schreckens. Es sind keine guten Märchenfiguren. Wer immer diese Bilder hinterlassen hat, der war für das Böse. Und er will das Böse weitergeben. Bei deinem Vater hat er es geschafft, und bei dir wird es auch versucht, Tommy. Das darfst du nicht vergessen.«
Tommy schüttelte den Kopf. »Sie tun mir nichts. Nein, sie tun mir nichts. Sie sind meine Freunde. Sie
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