1239 - Bilderbuch des Schreckens
Eindringling, der ein gewisses Maß an Sensibilität besaß, hätte nach wenigen Minuten gespürt, dass hier einiges nicht stimmte.
Abgesehen von der Feuchtigkeit und der Kühle herrschte hier eine bestimmte Atmosphäre vor. Sie war gefühlsmäßig düster und bedrohlich. Man konnte den Eindruck haben, dass in dieser Umgebung etwas lauerte, das einem Menschen nicht unbedingt gut tat. Der helle Lichtkegel glitt über die Wand hinweg, die aus altem Stein und aus hartem Lehm bestand, der feucht schimmerte, ebenso wie die Steine. Hier unten war alles anders - die Luft, der Geruch, der an Moder und Vergänglichkeit erinnerte. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass sich plötzlich die Wände öffneten, um grauenhafte Wesen zu entlassen, die sich über den einsamen Menschen hermachten.
Gespenster, die gefangen waren und nur darauf warteten, endlich befreit zu werden.
Ich bin nicht allein!, dachte Tommy. Sie sind bei mir wie immer.
Er drehte sich nach links, denn dort lag sein Ziel. Gebildet von einer Seitenwand der Höhle.
Auf den ersten Blick war nichts zu sehen. Die Wand zeigte keinen Unterschied zu den anderen. Auch hier schufen die Steine ein unregelmäßiges Muster. Nichts, aber auch gar nichts war glatt. Es sah schmutzig aus, aber genau diese Wand war für Tommy Olden wichtig. Ihretwegen war er gekommen.
Er trat noch zwei Schritte nach vorn und blieb dann stehen, wo er es immer tat. Etwas rieselte seinen Rücken hinab, als hätte ihm jemand kleine Eiskugeln in den Kragenausschnitt gekippt. Es war wie immer. Die Spannung blieb bestehen, und wieder fühlte er sich wie ein Läufer, der auf den Startschuss der Pistole wartet. Das würde hier auf eine besondere Art und Weise geschehen, er wusste es. Nur ein wenig Geduld musste er haben, denn die andere Seite, die noch nicht sichtbar war, musste sich erst noch sammeln.
Plötzlich und ganz ohne Vorwarnung war es soweit. Tommy hörte eine Stimme, obwohl niemand in seiner Nähe war. Die Stimme erreichte ihn von vorn, direkt aus der Wand. Sie war zunächst nicht mehr als ein Zischeln und Flüstern. Es verging schon etwas Zeit, bis sie deutlicher zu hören war.
»Es ist schön, dass du wieder hier bist, Tommy. Wir haben lange warten müssen…«
»Ja, bis der Vollmond zu sehen war.« Wie immer sprach Tommy mit zittriger Stimme. Er benötigte eine gewisse Zeit, um sich an die neuen Gegebenheiten zu gewöhnen. Er wartete auf die Antwort, die wie immer erfolgte und stets die gleichen Worte enthielt.
»Dann kann ich ja eine neue Seite des Bilderbuchs aufschlagen, mein lieber Freund…«
»Ja«, flüsterte Tommy und hielt seine Taschenlampe wie in einem Krampf fest, »das kannst du…«
Die Stimme hatte nicht gelogen. Was in den folgenden Sekunden passierte, war für Tommy noch immer mehr als ein Wunder…
***
Zum Glück hatte sich der Nebel verflüchtigt. In den Morge nstunden war Wind aufgekommen und hatte die graue Suppe zuerst zerrissen und dann vertrieben. Für Suko und mich war es so, als wollte er die schrecklichen Vorgänge der vergangenen Nacht endgültig zerstören und sie in das Reich des Vergessens schicken.
Niemand konnte vergessen.
Weder Amy Carry, Dean Pollack, der Kapitän, Orson Finlay, der Alte mit dem schlohweißen Bart, noch Suko und ich. Es war in der vergangenen Nacht zu viel und zu Schreckliches geschehen, als dass man es einfach so abhaken konnte.
Wir hatten gewonnen und verloren zugleich, wie so oft im Leben. Das Grauen war über Coomb Island hergefallen, und wir hatten es nur zum Teil stoppen können.
Es war der blonden Vampirbestie Justine Cavallo nicht gelungen, die Insel zu einem ihrer Stützpunkte zu machen. Wir hatten sie zurückschlagen können, aber auf Kosten zahlreicher Opfer.
Amy Carry, eine junge Frau, hatte ihre Eltern verloren, die zu Vampiren geworden waren. Wie auch die Crew eines Bergungsschiffes, von der nur der Kapitän durch glückliche Umstände überlebt hatte, und auch die mehr als sechzig Jahre alten Blutsauger, die aus einem Klein- U-Boot geholt worden waren, gab es nicht mehr. Da hatten Suko und ich schon aufräumen können, doch letztendlich war uns Justine Cavallo wieder entkommen, und sie hatte auch nicht das in ihren Besitz bekommen, nach dem sie so intensiv gesucht hatte.
Eine Spur des geheimnisumwitterten Highland-Vampirs, der eine Hinterlassenschaft in Form von mit seinem Blut gefüllten Egeln zurückgelassen hatte.
Suko hatte es geschafft, diese Egel zu vernichten, aber damit war uns kein großer
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