1241 - Der Mördermönch von Keitum
nie vergessen.
Jetzt war sie 35. Hatte die Mitte des Lebens erreicht und merkte, dass es für sie noch immer mehr offene Fragen gab als Antworten. Die Beziehung war vorbei. Okay, im Beruf lief es ganz gut. In der Bank machte sie ihren Job gut, aber das war nicht alles im Leben.
Das war ihr wieder deutlich vor Augen geführt worden, als sie im Hotel mit der Familie Brass Kontakt bekommen hatte.
Beide Eltern waren glücklich mit ihrem kleinen Max, obwohl er sie ständig auf Trab hielt, aber auch das gehörte dazu. Nelly war es fast schon schmerzlich zu Bewusstsein gekommen. Vor allen Dingen, weil sie allein durchs Leben ging. Ein Partner war schnell gefunden, aber auch ebenso schnell wieder weg. In ihrem Alter brauchte sie etwas, auf das sie sich verlassen konnte. Die Zeit des Schaukelns war vorbei.
Mit gesenktem Kopf schritt sie weiter. Die Stirn war gefurcht, als lägen dahinter die schweren Gedanken, und sie merkte plötzlich, dass sich in ihrem Hals wieder so ein verdammter Klumpen gebildet hatte. Zugleich fing sie an zu schaudern, und sie ballte in den Taschen ihre Hände zu Fäusten. Tief holte sie Luft. Nur jetzt nicht wieder die verdammten Tränen. Sie lohnten einfach nicht. Thomas hatte sie verlassen. Er würde nicht mehr zurückkehren. Es ging einfach nicht. Man konnte die Vergangenheit nicht zurückholen. So etwas war unmöglich.
Man musste sich der Gegenwart stellen.
Aber es war schwer, so verdammt schwer.
»Nein!«, flüsterte Nelly vor sich hin und trat heftig mit dem rechten Fuß auf. »Nein, ich will es nicht. Ich will mein Leben für mich in die Reihe bringen, verflucht!«
Ein Wagen bog vor ihr in die Straße ein und erwischte sie mit seinem bleichen Scheinwerferteppich. Nelly zuckte unwillkürlich zur Seite und blieb neben dem Stamm einer Platane stehen.
Auf die Insassen musste sie wie ein Gespenst wirken, aber der Wagen stoppte nicht und rollte an ihr vorbei.
Nelly ging weiter. Sie wusste nicht, in welcher Gasse sie gelandet war. Irgendwann würde sie wieder an einen bekannten Punkt kommen, und das Hotel hatte sie bisher immer gefunden.
Wieder durchlief sie eine schmale Straße. Rechts und links standen die typischen, mit Reet gedeckten Friesenhäuser, kleine Bauten, die sich in den Gärten regelrecht zusammenduckten und zumeist hinter den vor Wind schützenden Steinmauern lagen.
Da der Oktober ungewöhnlich warm gewesen war, hatten die Bäume ihre Blätter noch nicht verloren. An manchen Zweigen hingen sie wie alte Lappen, und selbst der Sturm hatte nicht alle geschafft.
Manche flogen durch die Luft und taumelten wie übergroße Schmetterlinge dem Boden entgegen. Die Natur legte sich schlafen, und sie würde erst in einigen Monaten wieder erwachen.
Zuvor war Weihnachten.
Nelly biss sich auf die Unterlippe, als sie daran dachte. Das letzte Weihnachtsfest hatte sie noch zusammen mit Thomas verbracht. Es war sogar wunderbar gewesen. In diesem Jahr würde sie allein sein. Da bekam selbst eine Powerfrau wie sie romantische Gefühle. Sie war ja nicht der einzige Mensch, der unter einem derartigen Schicksal litt. So würde sie in den entsprechenden Lokalen zahlreiche Gleichgesinnte finden, um dort die Stunden des Heiligen Abends zu verbringen.
Vom Watt her krochen die ersten Dunsttücher auf das Land und wehten lautlos in den Ort hinein. Sie überschwemmten die kleinen Straßen, sie bedeckten die Häuser, sie krochen an den Wänden hoch und auch in die Gärten hinein. Es würde kein dichter Nebel werden, aber eben ein typischer Novemberdunst, der einfach zu dieser Jahreszeit dazugehörte.
Die Welt versank in Grau, in Schwarz - und in Rot!
Nelly blieb stehen, als hätte sie einen Befehl bekommen. Es sah aus, als wäre sie in der Bewegung einge froren. Sie schaute nach vorn, aber da war nichts.
Trotzdem hatte sie den roten Fleck gesehen. Das war wirklich alles andere als eine Täuschung gewesen, denn so tief war sie mit ihren Nerven noch nicht gesunken.
Noch im Stehen drehte sie langsam den Kopf nach links. In dieser Richtung hatte sie die farbliche Veränderung bemerkt.
Nur um eine Winzigkeit musste sie den Kopf bewegen, um zu erkennen, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
Da war etwas Rotes!
Plötzlich hatte sie ihre Grübelei vergessen. Das andere interessierte sie plötzlich, und sie ging zwei kleine Schritte schräg nach links. Eine Mauer stoppte sie. Im Sommer wuchsen daran die herrlichen Sylter Rosen. Jetzt breitete sich nur noch der kahle Strauch aus, der wie dünne braune
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