1242 - Geheimbund Omega
ihrer selbst.
MUSS ich zum Sterben einen Mantel anziehen?, dachte sie und lachte auf, als sie im schmalen Flur vor der Garderobe stehen blieb. Eigentlich nicht, gab sie sich selbst die Antwort.
Es war nicht zu kalt und die Kälte des Todes würde sie nicht mehr spüren.
Sie ging weiter bis zur Haustür. Sie trug Hose, Jacke und Pullover. An der Treppe nach oben brannten eine Wandleuchte.
Ihr Licht erfasste auch den Spiegel, vor dem sie für einen Moment stehen blieb und sich anschaute.
Mein Gott, was war aus ihr geworden! Der verfluchte Krebs hatte sie besiegt. Er war gnadenlos gewesen. Sie hatte gekämpft, aber vergeblich. Die Schmerzen fraßen sie auf.
Manchmal verglich sie sie mit Würmern, die sich in ihrem Innern festgesetzt hatten und sich immer weiter ausbreiteten, bis sie alles zerstört hatten.
Noch einmal fuhr sie durch ihre Haare, um die Perücke festzusetzen. Durch die Chemotherapie hatte sie ihre Haare verloren und sich deshalb eine Perücke machen lassen. Grau, ihrem Alter angepasst. Eingefallen war das Gesicht. Eine Landschaft aus Falten und kleinen Mulden. Über allem lag der Ausdruck des Schmerzes wie ein nicht enden wollender Druck.
Sie hatte sich so schlimm verändert, und sie hatte auch den Kontakt zu Freunden und Bekannten abgebrochen. Niemand sollte sie in ihrem Zustand erleben. Man würde sie so in Erinnerung behalten wie sie damals gewesen war. Und das war schon okay.
Keinen Mantel - nein. Wofür noch?
Sie drehte sich weg und ging auf die nahe Haustür zu. Die letzten Schritte in ihrer gewohnten Umgebung. Jetzt hätte es eigentlich so weit sein müssen. Trauer hätte sie überschwemmen müssen. Vielleicht auch das Verlangen nach dem Leben, aber nichts davon traf zu. Sie fühlte sich anders. Möglicherweise auch leer. Vom Schicksal verlassen, das sie allerdings jetzt wieder zurückgeholt hatte, denn nun konnte sie durch den eigenen Willen ihr Schicksal bestimmen.
Als sie ihre Hand auf die Klinke gelegt hatte, stellte sie sich automatisch die Frage, ob sie sich auf den Tod freute. Immer wieder hatte sie sich damit beschäftigt, und sie musste zugeben, dass sie sich bei dieser Frage neutral verhielt. Der Tod war ihr letztendlich gleichgültig. Sie wollte nur, dass die Schmerzen aufhörten und das verdammte Elend damit für alle Zeiten vorbei war.
Ein letzter tiefer Atemzug. Der Griff in die Tasche, in der das Bild ihres Mannes steckte, das sie mit in den Tod nehmen würde. Und sie freute sich darauf, ihn bald in einer anderen Welt wieder zu sehen. Er war immer ein guter Mensch gewesen und Ruth glaubte noch an den Himmel und an die Hölle.
Sie wollte ihren Mann im Himmel wiedertreffen. Vor der Hölle fürchtete sie sich. Deshalb würde sie auch niemals ihrem Leben selbst ein Ende setzen, denn Selbstmörder landeten in der Hölle. Daran glaubte sie fest.
Wieder kehrten die Schmerzen zurück. Die Wirkung der starken Tabletten ließ nach. Und genau diese Schmerzen waren es, die ihr den letzten Push gaben.
Ruth Williams öffnete die Haustür.
Sie spürte die kalte Luft, die der Wind gegen ihr Gesicht schleuderte. Sie sah auch die Lichter in den anderen Gärten und biss sich kurz auf die Lippe, als sie daran dachte, dass die Nachbarn bereits die Weihnachtsbeleuchtung angebracht hatten.
Das würde sie nicht mehr stören. Überhaupt waren die letzten Weihnachtsfeste schrecklich gewesen.
Sie ging den schmalen Weg, der vom Haus wegführte und dort endete, wo sich die Straße befand.
Dort warteten die Männer in ihrem Auto. Sie hatten es so gedreht, dass die Kühlerschnauze zum Haus hin zeigte und ihr kam das Fahrzeug vor wie ein lauerndes Fossil in der Dunkelheit.
Mit gesenktem Kopf ging Ruth weiter. Sie fragte sich, was die Menschen wohl dachten, wenn sie kurz davor standen, dem Sensenmann die Hand zu geben.
Sie wusste es nicht. Sie jedenfalls dachte an nichts oder vielleicht daran, dass bald alles vorbei war und sie endlich ihren Frieden schließen konnte.
Die Zeit, bis sie den Wagen erreicht hatte, verging sehr schnell. Auf einmal stand sie davor und sie sah hinter den Scheiben die schattenhaften Gesichter der beiden Männer.
Erkennen konnte sie nicht viel, aber Ruth wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie öffnete die Tür hinter der Fahrerseite, schob ihren Kopf in das Fahrzeug und sagte nur ein Wort.
»Lazarus!«
»Steigen Sie ein, Madam.«
Ruth setzte sich und zog die Beine an. Es war im Fahrzeug angenehm warm, und es roch auch so frisch, als hätte jemand den Duft von
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