1242 - Geheimbund Omega
Leben hineingesprüht.
Ruth hatte sich einen bestimmten Tod gewünscht, und den würde sie erleben. Fallen und sterben, das war es doch. Noch einmal den Wind spüren, bevor alles vorbei war.
Der Wagen fuhr seidenweich an. Das Motorengeräusch hörte sie kaum, und sie sah auch die beiden Männer auf den Vordersitzen nicht, nur einen Teil ihrer Köpfe, die über der Nackenstütze hervorschauten. Ansonsten hatte sie das Gefühl, allein im Wagen zu sitzen.
Es wurde nicht gesprochen, was Ruth sehr entgegen kam. Sie brauchte in den letzten Minuten ihres Lebens keine Unterha ltung. Sie wollte nur so rasch wie möglich das verdammte Elend beenden.
Seltsam!, dachte sie, wie ruhig ich bin. Es gibt keine Aufregung. Ich sitze hier und warte darauf, dass es vorbei ist. Und es wird bald vorbei sein. Nur noch eine kurze Zeit, dann sehe ich meinen Mann wieder. Sie holte ihn sich in die Erinnerung zurück und schloss dabei die Augen.
Seit Tagen schon hatte sie sich vorgestellt, wie der letzte Weg aussehen und wie sie sich dabei fühlen würde. Angst, Panik?
Der Wille, doch noch leben zu wollen, der in ihr hochdrang?
Nichts von dem traf zu. Sie saß im Wagen wie in einer sicheren Höhle, und sie dachte gar nicht an den Tod oder an den Übergang in etwas völlig Neues.
Hier war alles so wunderbar. So locker und befreit. Es würde keine Schmerzen und auch keine Sorgen mehr geben. Sie konnte ruhig in das neue Fahrwasser einlaufen.
Die Männer vor ihr schwiegen ebenfalls. Wahrscheinlich waren sie zu pietätvoll, um etwas zu sagen. Und bestimmt war sie nicht der erste Mensch, den sie auf seinen letzten Weg begleiteten. Irgendwann bekam man auch darin Routine. Aber die Organisation OMEGA war bekannt dafür, dass sie jeden Auftrag perfekt erledigte.
Sie rollten weiter und hatten bereits das bewohnte Gebiet verlassen. Ruth Williams warf einen Blick aus dem Fenster.
Viel konnte sie nicht erkennen. Die Dunkelheit hatte ein dichtes Netz über die Welt gelegt, in deren Maschen sich alles verfing. Hier und da ein Licht, ansonsten gab es die Landschaft, die im Sommer so herrlich blühte und jetzt in Trauer verfallen war.
Ruth kannte auch den Platz, an dem sie sterben wollte. Sie hatte ihn sich selbst ausgesucht und die Organisation hatte zugestimmt. So würde alles seinen Gang nehmen.
Es war die kleine, einsam liegende Brücke, die ebenfalls über eine einsame Straße führte, auf der kaum Autos fuhren. Es gab die Brücke schon lange, sie war älter als Ruth, aber Ruth hatte sie in ihrer Kindheit entdeckt und sie geliebt. Dort hatte sie sich zum ersten Mal mit einem Freund getroffen. Dort hatten sie dann die ersten Küsse ausgetauscht. Sie waren so glücklich gewesen und auch mit ihrem späteren Mann war sie oft dort gewesen.
Es war eine Schicksalsbrücke und sie sollte jetzt zu ihrem Schicksal werden.
Man musste schon hier wohnen, um sie zu finden. Sie war irgendwie vergessen worden. Man hatte neue Straßen gebaut, die um die Brücke herumführten, den eigentlichen Weg kannte kaum noch jemand. Weil das so war, hatte man auch die Brücke vergessen. Zumindest in der Nacht ließ sich dort kaum jemand sehen und über die Straße, die unter der Brücke herführte, fuhr bei Dunkelheit auch kaum ein Fahrzeug.
Draußen veränderte sich die Umgebung etwas. Der Bewuchs wurde dichter. Bäume und Sträucher nahmen Ruth den Blick.
Das Licht der Scheinwerfer malte sich auf der Straße wie ein bleiches Totenhemd ab, das immer weiter nach vorn geschoben wurde und plötzlich das Gestänge der alten Brücke erreichte.
Zum ersten Mal atmete die Frau schneller. Das war der Tod.
Das war genau die Stelle, an der sie ihr Leben verlassen würde.
Als zwei Halbbogen spannte sich die Brücke über die Straße hinweg. Der Boden auf der Brücke war längst nicht so glatt wie der auf der normalen Straße. Die Witterung hatte an ihm genagt und ihn aufgerissen. Niemand fühlte sich zuständig, die Wunden in der Straße zu flicken. Sie blieben offen.
Ruth merkte nicht, dass der Fahrer stoppte. Sie saß wie eine Eisfigur im Fond und schaute nach vorn. Auch die Augen bewegten sich nicht. Man konnte sich kaum vorstellen, dass diese Frau etwas von der Umgebung wahrnahm.
Die beiden Männer stiegen aus. Auch jetzt rührte die Frau sich nicht. Sekunden vergingen, bis an beiden Seiten die Türen geöffnet wurden.
»Bitte, Madam, es ist so weit.«
»Ja«, flüsterte Ruth, »ja, ich komme…«
Die ganze Zeit über hatte sie sich nicht bewegt und sich nicht mal
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