1253 - Angst vor dem eigenen Ich
darauf eine Antwort zu geben. Oft genug hatten wir hier in Alet-les-Bains zusammengesessen und Pläne geschmiedet. Wir hatten davon ausgehen können, dass viele unserer Pläne auch geklappt hatten, aber jetzt bewegten wir uns wie auf einem Drahtseil, das nicht zu straff gespannt war, sodass wir leicht abstürzen konnten.
Ich schaute Godwin de Salier zuvor bedeutungsvoll an, ehe ich die Frage stellte. »Du willst die Gebeine, nicht wahr?«
»Ja!«, sagte er nur…
***
Julie Ritter hatte die Küche verlassen. Sie kannte sich zwar nicht perfekt im Kloster aus, aber den Weg zu ihrem Zimmer fand sie schon. Kaum war sie allein, da fühlte sie sich so anders. Zuerst nahm sie als Grund an, dass der harte Stress endlich hinter ihr lag und sie sich geben konnte, wie sie wollte.
Julie stand mit beiden Füßen auf der Erde, und doch hatte sie den Eindruck, darüber hinwegzugleiten.
Sie war nicht mehr sie, selbst, wie sie es sich gern gewünscht hätte. Die Vorfälle hatten sie aufgewühlt, und sie wusste nicht, was sie noch denken sollte. Sie bewegte sich wie durch einen Tunnel und war froh, ihr kleines Zimmer zu erreichen. Sofort rammte sie die Tür hinter sich zu. Sie war allein, und das wollte sie auch zunächst bleiben.
Es war einfach zuviel auf sie eingestürmt, und sie sah sich als Mittelpunkt an. Eine Rolle, die ihr überhaupt nicht gefallen konnte. Dafür war sie nicht geschaffen, aber daran konnte sie nichts mehr ändern.
Da hinein hatte sie einfach das Schicksal getrieben, und dem kann der Mensch nun mal nicht ausweichen, das wusste auch sie.
Julie setzte sich auf ihr Bett. Das Zittern in den Knien hörte auf. Sie schaffte es auch, sich zu konzentrieren und ließ noch einmal das Geschehen vor ihrem geistigen Auge ablaufen.
Sie dachte besonders an den Zeitpunkt, an dem John sie nackt in seinem Bett hatte liegen sehen.
Heftig schüttelte sie den Kopf. Sie schämte sich plötzlich und presste die Hände vors Gesicht. Erst jetzt konnte sie weinen. Es geschah lautlos. Kein lautes Schluchzen, kein Zucken der Schultern, und sie hielt dabei auch die Lippen zusammengedrückt. Scham durchflutete sie weiterhin, aber auch die Furcht vor der Zukunft, denn sie verdrängte die Scham.
Sie atmete tief durch. Der Fußboden verschwamm vor ihren Blicken. Wieder hatte sie das Gefühl, auf einer Insel zu sein, die von allen anderen Lebewesen verlassen war. Das Leben hatte ihr eine Facette gezeigt, die sie erst einordnen musste, um damit fertig zu werden, was sie zu diesem Zeitpunkt nicht fertig brachte.
Ihr kam wieder in den Sinn, wer sie eigentlich war. Eine Person, die schon mal gelebt hatte. Als Maria Magdalena, die als Sünderin und als Heilige beschrieben wurde.
Von den Templern hochverehrt, wurde sie von anderen Seiten abgelehnt, aber es hatte sie gegeben, und die Sagen und Legenden stimmten, die sich über die Jahrhunderte hinweg um ihre Gebeine gedreht hatten. Es gab sie. Sie lagen in einem Schacht, und Julie hatte sehr deutlich die Atmosphäre gespürt, die am Rande des Schachts geherrscht hatte.
Eine Atmosphäre, die auch mit einer Stimme verglichen werden konnte, denn sie hatte die Stimme in ihrem Kopf gehört. Der Kontakt war aufgenommen worden.
Von wem? Tatsächlich von Maria Magdalena? Sie konnte noch immer nicht richtig fassen, dass sie es gewesen war, die mal als Maria Magdalena gelebt hatte, aber alle Anzeichen deuteten darauf hin.
Aber es gab noch die andere Sache. Die Zweiteilung ihres Körpers. Sie hatte gedacht, es schon vergessen zu haben, da die Pubertät Jahre zurücklag. Aber es war zurückgekehrt, und sie hatte sich ebenso erschreckt wie damals.
Es waren schlimme Bilder gewesen. Sie hatte sich einmal sogar als Gehängte gesehen. Zum anderen in einem Kellerraum, in dem sie brusthoch im Wasser gestanden hatte, das immer stärker anstieg, sodass sie es nicht schaffte, den Fluten zu entkommen.
Schreckliche Bilder, die sie damals traumatisiert hatten, aber das war nun vorbei, und sie hatte ein fast normales Leben geführt. Bis vor zwei Tagen. Da war es wuchtig über sie hereingebrochen. Da waren die Brücken ihres Lebens zusammengestürzt und bestanden nur noch aus Trümmern. Sie musste sich erst etwas Neues aufbauen, und sie hoffte, dass man ihr dabei half.
Eine gewisse Affinität zu der geheimnisvollen Maria Magdalena hatte sie schon immer gespürt. Sie war von dieser Frau fasziniert gewesen. Bei ihren Erklärungen des Genter Altarbilds hatte sie die Gruppen auch stets darauf hingewiesen, aber
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