1261 - Blut aus dem Jenseits
die Jeans mit den Applikationen aus Perlen an den Taschen, die flachen Schuhe und die helle Bluse mit den zarten roten Streifen, die locker bis zu den Hüften fiel.
Das alles passte, das war so normal, nur ihre Gedanken empfand sie nicht so. Es war ihr klar, dass sie das Geschehen nicht so einfach abhaken konnte und es auch nicht tun würde. Das war der Anfang gewesen, aber beileibe nicht das Ende.
Sie schluckte. Um das feuchte Haar kümmerte sich Tina nicht. Normalerweise hätte sie es geföhnt.
Daran war jetzt nicht zu denken. Sie dachte nur daran, wie alles begonnen hatte, und deshalb warf sie auch einen Blick gegen die Decke.
Darüber blieb es still. Kein Laut zu hören. Eine leere Wohnung, in der sich trotzdem jemand aufhielt.
Aber wer?
Es war normal, sich die Frage zu stellen, aber es war auch verrückt, eine Antwort zu finden. Tina hatte bisher nur rational gedacht. Das musste sie jetzt vergessen.
Was war dort oben passiert?
Welche Menschen hatten die Wohnung betreten? Waren es überhaupt Menschen gewesen? Menschen, die ihr Blut verloren hatten, das aus der Decke getropft und auch aus den Wänden gedrungen war?
Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen. Das war irgendwie unmöglich. Also keine Menschen.
Geister?
Als ihr dieser Gedanke kam, musste sie selbst darüber lachen. Nein, keine Geister, denn Geister können nicht bluten. Auch das war irgendwie Quatsch, so zu denken.
Weder Menschen noch Geister - wer dann?
Das war die große Frage, auf die Tina keine Antwort wusste. Aber sie gehörte zu den Menschen, die sich ohne Antworten nicht zufrieden geben. Auch wenn ihr das Geschehen im Nachhinein noch unerklärlich vorkam, musste sie einfach wissen, was da abgelaufen war. Der Drang war zu groß.
Stärker als die Furcht.
Und so stand ihr Plan sehr schnell fest. Sie wollte die Treppe hoch in die obere Etage steigen und sich in der leeren Wohnung umschauen. Vorausgesetzt, sie war leer.
Noch immer schlug ihr Herz schneller als normal. Der Puls erhöhte sich noch, als Tina die Küche betreten hatte und eine Schublade aufzog, in der die Bestecke lagen.
Unter anderem fand sie dort ein Messer mit breiter Klinge. Sie schnitt damit sonst das Fleisch, aber diesmal würde sie es mitnehmen, um sich zu verteidigen.
Der Griff bestand aus braunem Holz. Die Faust klebte fast an ihm fest.
Er lag gut in der Hand. Tina Steene hatte das Messer bisher noch nie zweckentfremdet, jetzt aber würde sie es tun, wenn es denn sein musste.
Mit diesem Gedanken zog die Frau die Wohnungstür auf…
***
Im Hausflur war es kälter. Sie spürte es augenblicklich an ihren noch immer nassen Haaren. Über sie schien eine kalte Hand hinwegzugleiten, um auch die Kopfhaut zu malträtieren.
Der erste Blick in den Flur!
Es war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Eine leere Holztreppe, die nach unten führte. Das gleiche war auch in der umgekehrten Form zu sehen, und auf den Stufen zeigte sich ebenfalls niemand.
War überhaupt jemand hochgegangen?
Im Haus wohnten mehrere Parteien. Es war auch nicht immer still. An diesem Abend schon. Ihr schien es, als hielten sich die anderen Mieter bewusst zurück.
Sie fragte sich natürlich, ob sie die Einzige gewesen war, die etwas gehört hatte.
Das konnte natürlich sein. Es war auch logisch, denn sie wohnte ja in der zweitletzten Etage.
Die Treppe kam ihr vor wie ein zunächst unüberwindlich erscheinendes Hindernis. Wieder lag der kalte Schauer auf ihrem Rücken, obwohl sie diesmal nicht in der Wanne saß. Das Wasser hatte sie noch darin gelassen, auch etwas, was ihr sonst nicht passiert war. Aber diesmal waren die Umstände andere.
Sie betrat die erste Stufe. Es war alles wie immer. Das alte Holz, von dem die Farbe abgeblättert war, hatte schon immer geknarzt. Warum hätte sich das heute ändern sollen?
Tina Steene hielt den Kopf leicht erhoben. Sie ließ ihre linke Hand über das Geländer streifen. In der rechten hielt sie das Messer, und es kam ihr nicht mal wie ein Fremdkörper vor. Sie hatte sich gedanklich einfach umgestellt. Das war zu einem Selbstschutz geworden. Nur so konnte sie sich den fremden Dingen stellen, ohne verrückt zu werden.
In ihrem Beruf hatte sie nur mit Tatsachen zu tun. Da gab es keinen Platz für irgendwelche Schwärmereien. Da musste sie sich durch die Zahlenwelt bewegen, die ein Computer ihr präsentierte. Sie arbeitete in der Steuerbehörde. Da hatte man keinen Sinn für Geister oder für irgendwelches andere Zeug, das nicht auf dem Boden der Tatsachen
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