1266 - Schleichende Angst
davon? Nicole Baker hat euch nichts getan, ebenso wenig wie Stan Shaw. Warum also soll…«
»Rache!« schrie Sally Corner mich an. Speicheltropfen sprühten mir ins Gesicht. »Einfach nur Rache und Abrechnung. Wenn der Scheiterhaufen brennt, werden auch die Drei endlich ihre Ruhe finden, und wir werden ihre Nachfolge übernehmen. Sie haben in den Flammen gelitten, aber sie waren nicht völlig vernichtet. Die Hölle hat sich großzügig gezeigt, und der Teufel stand auf ihrer Seite. In uns haben sie Nachfolgerinnen gefunden, und so wird es auch bleiben, das schwöre ich dir.«
»Bestimmt nicht!«, erklärte ich.
Sally Corner war anderer Meinung. »Was willst du denn tun, he? Nichts kannst du tun. Wir sind einfach zu stark, und wir stehen unter dem Schutz unserer Vorgängerinnen.«
»Das glaube ich nicht!«
»Du bist arrogant und zugleich ein Ignorant. Wie viele Männer.«
»Nein, ich bin Realist. Was die drei verbrannten Hexen angeht, so glaube ich dir sogar. Ich habe sie gehört. Sie haben mit mir Kontakt aufgenommen. Ich verstand ihre Stimmen, aber ich merkte auch, dass sie Furcht vor mir hatten. Sie zogen sich zurück, obwohl sie mich als einen Feind betrachteten.«
»Du lügst!« schrie sie mich an.
»Nein, ich lüge nicht.« Mit der linken Hand griff ich in die Tasche meiner Lederjacke. Sehr langsam und auch bewusst holte ich mein Kreuz hervor.
Sally verfolgte den Weg meiner Hand genau - und verkrampfte sich, als sie plötzlich das Kreuz sah, auf das sie schauen musste. Für einen Moment weiteten sich ihre Augen vor Schock, denn mit diesem Symbol stand sie auf Kriegsfuß.
»Nun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Verdammt, ich will es nicht sehen.« Dann schloss sie die Augen, riss aber zugleich den Mund auf und brüllte: »Ich hasse es!«
»Das weiß ich. Und du musst es auch hassen! Die drei Verbrannten hassen es auch. Ich habe sie gehört. Das Kreuz hat sie gelockt. Ich spürte ihre Angst über eine unglaubliche Entfernung hinweg, und sie werden wissen, dass sie verloren haben.«
»Nein, nein, niemals.«
Sally Corner stemmte sich dagegen, aber ihre Stimme klang längst nicht mehr so wild und überzeugt. Ich erkannte jetzt die Furcht in ihren Augen. Den Widerstand gegen mich hatte sie zwar noch nicht aufgegeben, aber er fing an zu bröckeln.
Das nutzte ich aus. Ich kam mit einer Bewegung aus meiner knienden Haltung weg und stellte mich wieder auf, die Füße. Dabei bleib die Mündung der Waffe auf Sally Corner gerichtet.
Es waren mehrere Schüsse gefallen. Auch wenn die Natur einen Teil des Schalls geschluckt hatte, so wunderte es mich doch, dass ich noch keine Reaktion auf die Schüsse erlebt hatte. Schließlich war Sally Corner nicht allein.
Sie traf keinerlei Anstalten aufzustehen. Als ich mit der Waffe winkte, bewegte sie sich.
Es war schon eine ungewöhnliche Szene, in deren Mittelpunkt wir standen. Sie kam mir so wenig gruselig vor. Es gab keine Dämmerung, keine Dunkelheit, keine schrecklichen Gestalten, die aus diesem Dunkel hervordrangen. Keine Vampirmäuler, deren Zähne mich beißen wollten und auch keine Geschöpfe, die aussahen wie in der Hölle entstanden.
Stattdessen ein englischer Wald in der späten Frühlingsblüte und auch das Licht des Tages, das durch die Lücken drang und sich ausbreitete.
Sally Corner stand wieder. Sie wischte über ihre Lippen hinweg. In ihrem Blick vereinten sich unterschiedliche Richtungen. Zum einen versuchte sie in den Wald hinein zu schielen, zum anderen wollte sie mich nicht aus den Augen lassen.
»Ich denke, dass wir jetzt einen kleinen Spaziergang machen«, schlug ich ihr vor und lächelte dabei.
»Du weißt, wohin du gehen wirst! Und noch etwas. Ich will nicht, dass du deine Freundinnen warnst. Es würde dir nicht bekommen. Rücksicht mit einer Mörderin zu haben, ist hier fehl am Platze.«
»Ich habe keine Angst vor dem Tod!«
Darauf wollte ich ihr eine Antwort geben, doch ich hielt mich zurück, denn ich schnüffelte wie ein Hund, der etwas gerochen hatte.
Verdammt, es stimmte. Die klare Luft des Waldes wurde von einem anderen Geruch durchdrungen.
Es roch nach Rauch!
Der Scheiterhaufen!, dachte ich nur…
***
Stan Shaw hatte versucht, sich zu wehren. Die dritte Person war verschwunden, er hatte es nur mit zwei Gegnerinnen zu tun, und sie waren auch nicht mehr bewaffnet. Es war ein Fehler gewesen, sich zu wehren, wie er sich eingestehen musste, am Boden liegend und gegen die Schmerzen ankämpfend, die vom Nacken her in seinen Kopf
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