1267 - Das chinesische Grauen
die Männer durchzulassen.
Shao drehte sich um. Sie hörte ihren Schützling. Li zitterte am gesamten Körper und schaffte es kaum, ihren Atem unter Kontrolle zu halten. »Bitte«, flüsterte Shao, »du musst jetzt ruhig bleiben. Versprichst du mir das, Li?«
»Ich werde es versuchen.«
»Super.«
Shao hatte sich zwar optimistisch gegeben, doch in ihrem Hinterkopf lauerte noch immer die Warnung. Sie hatte zwei dieser Häscher ausgeschaltet. Für wie lange, das war schon fraglich. Zumindest einer von ihnen konnte sich in der Zwischenzeit erholt haben und würde alles daransetzen, um seinen Fehler zu korrigieren.
Zu hören war jedenfalls nichts Verdächtiges. Das tat schon richtig gut. Um das normale Geschäft zu erreichen, mussten die beiden Frauen quer durch das Lager gehen. Shao wusste, dass es zu einer Folterstrecke werden konnte. Sie sagte Li davon nichts und wollte nur, dass die junge Frau dicht bei ihr blieb. Sie nahm sogar ihre Hand, legte zudem einen Finger auf ihre Lippen und war froh, als Li nickte, denn sie hatte alles verstanden.
Beide konnten nicht über den Boden schweben, und deshalb gingen sie wie auf Samtpfoten. Die Glätte des Bodens kam ihnen zugute, das wenige Licht reichte auch, um nicht irgendwo anzustoßen, und so bewegten sie sich in dem Gang, den Kisten entlang, wie durch einen grauen Tunnel.
Trotz allem versuchte Shao, so schnell wie möglich zu gehen. Sie wollte das verdammte Lager hinter sich bringen, und sie hoffte, dass die Besitzerin die Tür hinter ihrer Theke nicht abgeschlossen hatte.
Aus dem Rückraum war nichts zu hören. Ihre Häscher mussten noch draußen sein. Sie hatten auch nicht an der Tür gerüttelt, und eigentlich hätten sie eine Fensterscheibe einschlagen müssen, doch auch das taten sie nicht.
Den ersten Gegner passierten sie. Er lag noch immer in der gleichen Haltung und war bewusstlos.
Shao hatte diesen Kerl wirklich perfekt getroffen, aber der Killer mit der verdammten Seidenschlinge war verschwunden. Das ärgerte sie und ließ gewisse Befürchtungen noch höher steigen. Den Beweis besaß sie nicht, aber es konnte sein, dass man ihnen eine Falle gestellt hatte, mit der sie jetzt noch nicht rechneten. Da war das Geräusch durchaus eine Alternative.
Lis Atem hatte sich ein wenig beruhigt. Aber sie war noch immer hochgradig nervös. Das spürte Shao sehr deutlich, denn die Hand zitterte, obwohl Shao sie fest hielt.
Endlich sah sie die Tür.
Da sackte Shao auch der berühmte Stein vom Herzen. Sie schaute kurz zurück und nickte Li zu.
»Wir sind da…«
»Ja…«
»Du bleibst auch jetzt hinter mir.«
Jetzt nickte auch Li.
Shao hatte die rechte Hand frei. Und die streckte sie dem Knauf entgegen. Es kam darauf an. In den nächsten Sekunden würde sie die Entscheidung erleben.
Noch mal holte sie tief Luft, dann zog sie die Tür mit einer schnellen Bewegung auf. Es war wunderbar,, sie war nicht verschlossen gewesen, all das fuhr ihr jetzt durch den Kopf, und sie stand so günstig, dass sie den Laden überblicken konnte.
Er war leer bis auf die Frau mit der dicken Brille. Sie allerdings stand an einem Regal an der Seite und war dabei, es mit Dosen zu füllen. Ansonsten konnte Shao durchatmen. Es hatte sich nichts verändert. Selbst der Geruch nicht.
Shao war trotzdem misstrauisch. Sie schaute sich sicherheitshalber noch mal um, doch da war nichts, was ihren Verdacht erregte. Die Besitzerin räumte weiterhin Dosen ins Regal.
Hatte sie wirklich nichts bemerkt?
Shao konnte es kaum glauben. Auch die Stille störte sie. Sie wirkte irgendwie gespenstisch. Unnatürlich.
Shao wollte ihren Schützling nicht nerven. Li stand hinter ihr und atmete stoßweise. Als Shao sich umdrehte, da sah sie das lächelnde Gesicht ihrer Retterin.
»Ist doch alles klar, nicht?«
»Nein!«
Shao hatte eine knappe und präzise Antwort erhalten, war aber trotzdem verwundert und flüsterte:
»Wie kannst du so etwas sagen?«
Li blickte zu Boden. »Weil ich es spüre, Shao. Ich spüre, dass wir nicht mit der Frau allein sind.«
»Du kennst sie nicht?«
»Nein, ich habe mich nur versteckt in diesem Lager. Aber die Frau hier steht auf der anderen Seite. Sie tut nur so neutral, in Wirklichkeit denkt sie anders. Hier hat sich vieles verdichtet. Ich spüre sehr genau den Druck.«
Shao wusste nicht, ob sie Li glauben sollte. Sie schaute aber zu der Besitzerin hin, die dabei war, noch immer die Dosen in das Regal zu stapeln. Sie ließ sich sehr viel Zeit, zu viel für Shaos Geschmack.
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