1267 - Das chinesische Grauen
und sie in den folgenden Minuten das Bewusstsein völlig verlor. So merkte sie nicht, wohin man sie brachte. Sie erwachte erst wieder, als man sie aus dem Teppich rollte und sie wieder normal Luft bekam. Und trotzdem fühlte sich Shao wie jemand, der weggetragen wurde. Sie fühlte sich wie auf einem Floß, sie schaukelte hin und her, hörte im Hintergrund flüsternde Stimmen und einen bestimmten Laut, der entsteht, wenn eine Tür zugeschlagen wird.
Ruhe, nichts mehr hören. Keine Bewegungen mehr. Wieder zu sich selbst kommen.
Das alles dachte sie, aber selbst diese kleine Anstrengung verursachte Kopfschmerzen. Es waren böse Stiche, die von allen Seiten durch ihren Kopf fuhren. Sie hätte ihn am liebsten in Eis oder kaltes Wasser gepresst, aber beides war nicht vorhanden. Sie fühlte sich wie Teerund zugleich schwindlig. Es war alles so anders geworden, und selbst das Luftholen bereitete ihr Probleme.
Shao wollte sich nicht bewegen. Nur nichts tun, was ihren Zustand noch verschlimmerte. So blieb sie ruhig auf dem Rücken liegen und dachte daran, was sie gelernt hatte.
Sie wollte in einen Zustand hineingelangen, in dem sie die Kopfschmerzen einfach ignorierte. Das gab es. Das hatte sie von Suko erfahren. Man musste sich nur in sich selbst zurückziehen und seine Konzentration auf das Innere richten.
Shao spürte auch ihre schweren Augenlider. Sie schloss die Augen, und jetzt versuchte sie es mit der absoluten Konzentration. Die Dunkelheit umgab sie wie ein schwarzer Schwamm. In diesem Fall kam ihr das entgegen, da sie durch nichts abgelenkt wurde. Und so hatte sie das Gefühl, in ihr Innerstes zu fallen.
Es gelang ihr auch, die eigenen Gedanken zu stoppen. Shao dachte nicht mehr darüber nach, wo sie sich hätte befinden können, aber ihre Gefühle waren auch nicht völlig auszuschalten, denn dieser Raum, in dem sie lag, war nicht nur von einer gewissen Kälte erfüllt, sondern auch von einer Feuchtigkeit, die Shao an den Stellen ihrer Haut spürte, die offen lagen. Ein Keller. Ein Verlies. Ein alter Tunnel. Irgendetwas, was sich unter der Erde befand. Versteckt im Viertel der Chinesen. Kein Fremder wusste darüber Bescheid.
Irgendwann fühlte sich Shao wieder besser. Zwar gab es noch die unsichtbare Presse an ihren Kopfseiten, aber der Druck ließ sich ertragen, und Shao fühlte sich schon wieder etwas mehr als Mensch.
Und mit diesem Gefühl öffnete sie auch die Augen wieder. Sie hatte ja die Hoffnung auf einen Irrtum gehabt, leider trat der nicht ein. Sie lag tatsächlich in der absoluten Dunkelheit. Nicht mal eine Kerzenflamme durchbrach die Schwärze.
Shao hielt sich nach wie vor an die Regeln. Sie hielt den Mund offen und atmete langsam ein. Die Luft war alt, sie schmeckte verbraucht. Hinzu kam die Feuchtigkeit, die jede Ecke ihres Verlieses ausfüllte. Es hätte sie nicht gewundert, wenn plötzlich Tropfen von der Decke auf ihr Gesicht gefallen wären.
Shao zog die Beine an.
Sie freute sich darüber, dass sie sich bewegen ließen. Mit den Armen verhielt es sich ebenso. Auch sie wiesen keine Verletzungen auf, und Shao spürte, dass so etwas wie ein Optimismus in ihr aufstieg. Sie atmete tiefer ein, was auch sehr gut zu hören war, und das nicht nur von ihr, sondern auch von Li.
»Shao…?«
Es war eine Zitterstimme, die Sukos Partnerin erreichte, aber sie hatte sie erkannt.
»Ich lebe noch…«
Ein Lachen, das sich allerdings nicht fröhlich anhörte. »Ja, du lebst, Shao, und ich lebe auch. Wir beide leben, aber wir müssen uns auch fragen, wie lange dies noch andauern wird. Ich weiß es nicht. Die andere Seite ist grausam. Wer immer sich auch dahinter verbirgt. Sie nehmen keine Rücksicht auf Menschenleben…«
»Woher weißt du das?«
»Wir… sprechen darüber.«
»Und wer seid ihr?«
»Arme Schweine.«
Shao wollte noch mehr fragen, aber Li konnte keine Antwort mehr geben, weil sie zu weinen begann. Durch den Tränenstrom versiegte auch ihre Stimme, und so erhielt Shao Gelegenheit, sich wieder um sich selbst zu kümmern.
Es gefiel ihr nicht, dass sie nur steif auf dem Boden lag, und deshalb richtete sie sich vorsichtig auf.
Sie durfte nichts übertreiben, denn bei der ersten Bewegung schon stellte sie fest, dass die Schmerzen in ihrem Kopf wieder zunahmen.
Aber sie gab nicht auf. Sie schob ihren Körper so weit in die Höhe, dass sie eine sitzende Position erreichte und dort auch hocken blieb. Die Beine hatte sie ebenfalls angezogen und ihre Hände um die Knie gelegt. So blieb sie
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