1267 - Das chinesische Grauen
dieser Situation.
Suko kümmerte sich um ihn. Der Mann, natürlich ein Chinese, lag auf dem Rücken. Ob er noch immer bewusstlos war, ließ sich nicht feststellen. Suko schlug ihm einige Male gegen die Wangen.
Das leise Klatschen hörten wir, aber der Mann selbst bewegte sich nicht.
»Da war noch ein zweiter!«
Der Satz überraschte uns. Plötzlich konnte Mrs. Tam sprechen. Ich drehte mich zu ihr um. Sie stand hinter der Theke und hielt den Arm ausgestreckt, um auf die offene Thekentür zu deuten. In ihrer Haltung wirkte sie wie ein weiblicher Verkehrspolizist.
»Im Lager?«
»Ja.«
Ich wollte mich darum kümmern, aber die Frau kam mir zuvor. »Er ist wieder gegangen. Alle sind wieder weg, alle…«
Sie taute allmählich auf. Vermutlich hatte sie begriffen, dass ihre Lügen nichts brachten und wir uns nicht so leicht von unserem Konzept abbringen ließen.
»Wer sind alle?« fragte ich beim Nähertreten.
»Die Männer und die beiden Frauen.«
»Auch Shao?«
»Ja.«
Suko hatte zugehört. Er schnellte hoch und schaute über die Theke hin weg. »Dann wissen Sie mehr - oder?«
»Nein, ich weiß nichts. Ich darf nichts sagen. Ich werde auch nichts sagen. Ich will weiterhin leben.«
»Wir können Sie schützen!«
»Nein, nicht gegen ihn.«
»Und wer ist er?«
Mrs. Tam hob mit einer verlegenen Geste die Schultern. »Ich kenne ihn nicht. Nur wenige kennen ihn. Aber ich weiß, dass er Menschen mag. Frauen, junge Frauen. Sie werden zu ihm gebracht. Das muss so sein. Er wartet auf sie.«
»Und er hat keinen Namen?« fragte Suko.
»Vielleicht. Ich kenne ihn nicht. Aber viele haben Angst, große Angst. Er ist der wahre Herrscher…«
Das war alles in Rätseln gesprochen, doch in meinem Hirn sammelten sich allmählich die Gedanken und bewegten sich dabei auf ein Zentrum zu. Ich persönlich glaubte nicht daran, dass ich unbedingt so falsch lag, denn ich hatte genau verstanden, was die Frau uns mitgeteilt hatte. Da war die Rede von jungen Frauen gewesen, und es hatte drei tote Frauen gegeben, denen Gliedmaßen fehlten.
Konnte es sein, dass die verschwundenen Frauen - Shao und die Unbekannte - etwas damit zu tun hatten?
Suko verfolgte den gleichen Gedanken wie ich. Nur stellte er Mrs. Tam eine Frage! »Was wissen Sie über die Frauen? Erzählen Sie mehr darüber!«
»Die Männer haben sie geholt. Shao und das Mädchen. Es ist fast noch ein Mädchen.«
»Wo kam es her?«
»Ich weiß es nicht. Ich kenne es nicht…«
Immer diese stereotypen Antworten, die uns nichts einbrachten. Nur ließ sich Suko davon nicht beirren. Er hatte die Geduld, weiterhin Fragen zu stellen, während ich den Mann mit dem blutigen Gesicht nicht aus den Augen ließ. Suko hatte ihn schon durchsucht und keine Waffen bei ihm entdeckt.
Bei Mrs. Tam war der Damm gebrochen. Plötzlich konnte sie reden, und es sprudelte nur so über ihre Lippen. Wir hörten zu, aber wir bekamen die Worte kaum mit, so schnell waren sie gesprochen worden. Und wir erkannten, dass es der Frau gut tat, sich zu erleichtern, denn die Spannung fiel allmählich von ihr ab.
Wenn alles stimmte, was sie erzählt hatte, dann war Shao in die Hände einer Bande geraten, die irgendjemandem diente, und das musste nicht unbedingt ein Mensch sein.
»Haben Sie eine Ahnung, wo die Frauen hingebracht wurden?«
»Ich weiß es nicht.«
Das nahmen wir ihr sogar ab. Sie begann zu weinen und konnte nicht mehr sprechen. Schwerfällig ließ sie sich auf einen Hocker sinken, der in der Nähe stand.
Der Bewusstlose war im Lager gewesen. Er hatte die junge Frau holen wollen, also gehörte er zu der Bande, und an ihn mussten wir uns halten.
Wir wussten jetzt auch, dass Shao gegen ihn gekämpft hatte und noch gegen einen zweiten, der inzwischen verschwunden war. Mit dem Resultat der Befragung konnten wir zufrieden sein, aber Einzelheiten musste uns der Unbekannte berichten.
Ich bot Mrs. Tam an, sie in Schutzhaft nehmen zu lassen, aber sie stemmte sich dagegen.
»Nein, hier lebe ich seit meiner Geburt, und hier werde ich auch sterben, wenn es denn sein muss.«
»Es war nur ein Angebot.«
»Danke, ich weiß. Aber wir leben hier in unserer eigenen Welt, Mister. Das war so, und das wird auch immer so bleiben.«
Sie war erwachsen. Ich konnte nur für sie hoffen, dass sich die andere Seite nicht schadlos hielt.
Mittlerweile war auch der Bewusstlose erwacht. Er sagte nichts und hatte nur die Augen aufgeschlagen. Dass der Laden um diese Zeit geschlossen war, nahmen viele Kunden als
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