1267 - Das chinesische Grauen
Shao davon ausging, dass sie gar keinen besaß, denn zu sehen war nichts.
Man hatte ein Loch in das Gestein hineingeschlagen und die Holztür einfach eingesetzt.
Shao überkam plötzlich eine sehr große Ruhe. Zudem hatte sie das Gefühl, zufrieden zu sein, und sie sah die Zukunft nicht mehr so tiefschwarz. Da konnte sich eventuell etwas machen lassen, wenn die Zeit blieb und man die Nerven behielt.
Li war aufgestanden. Sie stand an Shaos rechter Seite und sprach sie leise an. »Keine Chance, nicht?«
»Das will ich nicht sagen.«
»Wieso denn?«
Shao lächelte ihr zu, obwohl Li das in der Dunkelheit nicht sah. Aber sie hörte an der Stimme, dass Shao die Lage nicht so schlecht einschätzte, denn die Worte wurden von einem optimistischen Unterton begleitet.
»Li, es kann sein, dass wir hier rauskommen. Ich kann dir nichts versprechen, aber tu mir bitte einen Gefallen: Behalte die Nerven, reiß dich zusammen. Ich weiß, dass ich viel verlange, aber es ist für mich sehr wichtig. Und auch natürlich für uns.«
»Klar, Shao, klar. Ich werde es versuchen. Ich bewundere dich ja auch, weil du so…«
»Hör auf damit. Denkst du denn, ich hätte keine Angst? Ha, das glaube mal. Aber ich habe in meinem Leben gelernt, aus einer Situation immer das Beste zu machen, und das müssen wir auch hier versuchen. Es kann ja sein, dass wir durchkommen.«
»Ich will es ja, aber…«
Shao ließ kein Gegenargument mehr zu. Sie spannte Li in ihren Plan mit ein. »Hier, nimm das Feuerzeug. Und knipse es an, wenn ich es dir sage. Klar?«
»Immer.« Ihre Hände fanden schnell zusammen, und Li hielt das kleine und so wichtige Gerät fest.
Shao hatte ihren letzten Trumpf noch nicht ausgespielt, auf den sie ihre Hoffnungen setzte. Das tat sie jetzt, und sie war froh, dass man sie nicht durchsucht hatte. Möglicherweise hatten es die anderen auch nicht gründlich getan, denn etwas in ihrem Besitz hatten sie übersehen.
Es war eine Schere, und es war genau die Schere, mit der sie die Fesseln der jungen Li durchgeschnitten hatte. Sie war zwar klein, aber sie bestand aus einem guten Material und war sehr stabil.
Sie würde auch Druck aushalten können.
Li waren die Geräusche der Bewegungen nicht entgangen, und sie fragte: »Was machst du?«
»Ich habe nur etwas geholt.«
»Was denn?«
»Mach mal Licht!«
Li tat es und zwinkerte irritiert mit den Augen, als das Feuer auf dem Metall schimmernde Reflexe hinterließ. »Das ist ja… das ist ja eine Schere!«
»Genau, Li.« Shao hielt sie hoch. »Es ist die Schere, mit der ich deine Fesseln durchtrennt habe, und in diesem Fall könnte sie für uns zum Lebensretter werden.«
Li hatte sich so erschreckt, dass die Feuerzeugflamme erlosch. »Das ist ja Irrsinn. Das ist ja… daran habe ich gar nicht gedacht…«
Sie redete sich in einen Übermut hinein, den Shao dämpfte. »Bitte, nicht so voreilig. Es ist eine Möglichkeit, nicht mehr. Wir sind nicht mehr so ganz hilflos.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Ich kann natürlich nicht das Holz durchschneiden, aber ich werde mich um das Schloss kümmern. Es scheint mir mehr als alt zu sein. Da könnten wir eine Chance haben.«
»Ja, tu das.«
»Du musst mir dann immer wieder mal leuchten.«
»Klar, das mache ich.« Die Stimme klang gehetzt. Li war nervös geworden, aber es war jetzt eine positive Aufregung, auf die sie bauen konnte.
Shao ging in die Knie. Sie schaute sich das Schloss genau an. Eingefasst wurde es von einer kleinen viereckigen Eisenplatte, die längst dicken Rost angesetzt hatte. Die Klinke lag über dem Schloss, und Shao irritierte nur das Flackern des Lichts, weil Li zu nervös war, um das Feuerzeug ruhig zu halten. Da konnte man ihr keinen Vorwurf machen.
Dann verlosch das Licht, und Li schrie leise auf, weil sie sich verbrannt hatte. Shao nahm es hin. Es war nicht weiter wichtig, denn sie hatte bereits den Eingang zum Schloss gefunden. Die linke Seite der Schere war dort hineingefahren, und Shao versuchte, sie wie einen Dietrich zu benutzen. Leider besaß die Schere keinen Haken, aber vielleicht klappte es auch so.
Sie kniete jetzt am Boden. Sie arbeitete sehr konzentriert und ignorierte auch die Schmerzen in ihrem Kopf. Durch den halb offenen Mund holte sie Atem, und ihre Hand drehte sich leicht hin und her, ebenso wie die linke Scherenhälfte.
Sie porkelte im Schloss. Sie versuchte, es zu öffnen. Sie musste den Riegel zurückschieben, den Dreh finden. Sie hatte auch festgestellt, dass dieses Schloss nicht
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