1267 - Das chinesische Grauen
der Dunkelheit wichen, wurde auch ein Teil der Angst genommen. Auf diese Karte setzte Shao.
Sie schnickte das Feuerzeug an und warf einen Blick gegen die Flamme, die sehr ruhig brannte und auch einen helleren Kreis in ihrer Umgebung schuf, in der sich schwach die Gestalt der Chinesin Li abmalte. Sie zeichnete aber auch einen schwachen Kreis gegen die Decke, die so hoch nicht über ihren Köpfen lag.
Shao bewegte das schmale Feuerzeug, indem sie den Arm hob. Die kleine Feuerzunge blieb nicht mehr ruhig. Sie begann einen Tanz, schuf bizarre Schattenmuster, die aussahen, als hätten sie sich aus den Wänden um sie herum gelöst. Das Wechselspiel aus Helligkeit und Dunkel tanzte über feuchte Wände hinweg und gab ihnen ein unruhiges Leben. Einen Ausgang hatten die beiden Frauen nicht gesehen.
Shao löschte die Feuerzeugflamme wieder, weil die Haut beinahe schon angesengt worden wäre.
Die Dunkelheit fiel wieder über ihnen zusammen, und Li klammerte sich an Shao fest.
»Hier gibt es keinen Ausgang!«, flüsterte sie. »Ich habe nichts davon gesehen.«
»Abwarten.«
»Bitte, Shao, wir müssen…«
»Vor allen Dingen die Nerven behalten«, erwiderte sie. »Noch ist nichts verloren. Du musst dir nur eines merken. Solange wir noch am Leben sind, gibt es immer eine Chance. Wenn du anders denkst, bist du schon verloren. Genau das will die andere Seite doch. Man will uns fertig machen und klein kriegen.«
»Aber hast du einen Ausgang gesehen?«
»Nein, Li. Und wenn wir ihn sehen, sollten wir uns trotzdem nicht zu große Hoffnungen machen. Er ist dann sicherlich verschlossen. So, und jetzt lass uns weitersuchen.«
Es fiel Shao nicht leicht, diesen Optimismus zu zeigen, doch es brachte nichts, wenn sie jetzt auch noch in Trauer verfiel und sich aufgab. Sie musste Li mit gutem Beispiel vorangehen.
Es war egal, wohin sie sich wandte. Shao ging einfach los und streckte dabei sicherheitshalber die Hand aus, denn sie wollte nicht irgendwo gegen laufen und sich das Gesicht prellen.
Nach vier Schritten blieb sie stehen. Li war dicht hinter ihr. Shao hörte sie atmen. Das Feuerzeug hatte sie weggesteckt. Jetzt holte sie es wieder hervor, und schon bald hatte sie wieder die Lichtinsel geschaffen.
»Da ist eine Tür!« Li hatte den Satz fast geschrieen. Sie schöpfte plötzlich Hoffnung, und sie war auch nicht mehr zu halten. Bevor Shao etwas sagen konnte, war sie an ihr vorbei und lief auf das neue Ziel zu. So hastig, dass sie kurz vor dem Erreichen stolperte, sich aber fangen konnte und nicht zu hart gegen das Holz prallte. Sie fand sogar eine Klinke, drückte sie, zerrte daran - und bekam die Tür nicht auf, denn sie war verschlossen.
Li wollte es nicht wahrhaben. Sie hatte gelitten. Der Frust war wie ein mächtiger Druck gewesen, von dem sie sich befreien musste, was sie auch tat. Und so brüllte sie ihre Enttäuschung und ihre Angst hinaus, während sie einige Male den Kopf schüttelte und immer wieder versuchte, die Tür aufzubekommen.
Es war nicht zu schaffen. Sie musste aufgeben. Li schluchzte und weinte. Sie verlor auch die Kraft in den Beinen und sackte dicht vor der Tür zusammen. Wie ein Häufchen Elend blieb sie auf dem Boden hocken, die Hände vors Gesicht geschlagen.
Shao konnte Li verstehen. Auch sie war enttäuscht. Nur zeigte sie es nicht. Es brachte sie beide nicht weiter, wenn auch sie jetzt durchdrehte und herumtobte. Sie musste einfach einen kühlen Kopf bewahren und nachdenken.
Li war für die nächste Zeit nicht mehr zu gebrauchen. Da kannte sich Shao aus. Deshalb übernahm sie die Initiative. Wieder trat das Feuerzeug in Aktion. Sie ließ die Hand behutsam von oben nach unten gleiten und schaute dem Muster nach, das sich auf dem Holz abmalte und ständig eine neue Form erhielt. Sie wollte sich die Tür genauer ansehen. Es war schlecht möglich, weil das Licht nicht genügend Helligkeit brachte. Aber sie erkannte schon beim ersten Hinschauen, dass die Tür aus Holz bestand.
In Höhe des Schlosses kam die Flamme zur Ruhe. Shao gab sich noch drei Sekunden, dann musste sie das Feuerzeug ausknipsen. Zudem hatte sie genug gesehen.
Die Tür war alt. Das Holz schien bereits angefault zu sein, aber es war trotzdem noch zu dick, um es ohne Hilfsmittel aufbrechen zu können. Deshalb war für sie das Schloss wichtig, das nicht so aussah, als stammte es aus einer modernen Zeit.
Bevor sie sich noch mal damit befasste, zerrte sie an der Tür. Sie ließ sich bewegen. Sie saß nicht so fest im Rahmen, wobei
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