1267 - Das chinesische Grauen
ihre Stimmen. Die meisten schrieen irgendwelche schrillen Sätze. Einige beschimpften auch die Polizei, aber die Kollegen ließen sich nicht stören.
Einer drückte den Kopf des Festgenommenen nach unten, um den Mann einsteigen zu lassen. Er tat es auch, setzte einen Schritt nach vorn, doch er schob seinen Körper nicht nach. Stattdessen zuckte er zusammen, als hätte man ihm einen Schlag versetzt.
Gestolpert war er nicht. Man hatte ihn auch nicht geschoben, es war etwas anderes passiert, und er rutschte dem Kollegen wie eine schwere Last aus dem Griff.
Mit dem Gesicht prallte er gegen den Wagen, rutschte noch mehr ab und landete auf dem Pflaster.
Viele hatten die Szene gesehen, viele waren geschockt, doch dieser Zustand dauerte nicht lange an, denn zuerst löste sich der Schock in einen Schrei auf. Dieser war wie ein Signal. Er bekam Nachschub, und dann jagten die Schreie wie ein akustisches Fanal gegen den Nachthimmel.
Auch ich hatte gesehen, was passiert war. Ich wusste, dass der Mann nicht mehr lebte. Ein Mord vor zahlreichen Zeugen, aber keiner hatte den Killer gesehen, auch ich nicht.
Manchmal können Menschenkörper wie zäher Leim sein. Das stellte ich auch hier fest, denn ich musste mit beiden Armen rudern, um die Leute aus dem Weg zu schaufeln.
Ich sah die bleichen Gesichter der Kollegen, die zwar wussten, was passiert war, aber auch nichts Konkretes gesehen hatten.
Konkret war allerdings der Körper. Er lag neben dem Wagen und bewegte sich nicht mehr. Da er auf dem Bauch lag, sah ich seinen Nacken. Genau dort und direkt in der Mitte hatte ihn der kleine Pfeil getroffen, dessen Ende mit Federn bestückt war, die sich leicht im Wind bewegten.
Ein Pfeil mit Gift an der Spitze. Ein teuflisches Zeug, das blitzschnell wirkte. Praktisch innerhalb weniger Sekunden war der Mann gestorben.
Ich kniete mich gar nicht erst nieder. Hinter mir scheuchte Suko die Neugierigen weg. Die beiden Kollegen sahen aus wie der Tod persönlich, so blass waren sie geworden. Einer setzte zu einer Erklärung an, die ich schon im Ansatz unterbrach.
»Lassen Sie es gut sein. Sie trifft keine Schuld. Auch mein Kollege und ich hätten den Mord nicht verhindern können.«
»Es war Gift, nicht?«
»Sieht ganz so aus.«
»Ich alarmiere die Kollegen von der Mordkommission«, sagte der zweite Kollege. Er schluckte ein paar Mal, bevor er in der Lage war, überhaupt sprechen zu können.
Noch immer umstanden uns die Menschen. Ich drehte mich langsam um die eigene Achse. Dabei schaute ich zwangsläufig in viele fremde Gesichter. Manche zeigten noch den Schrecken, andere wiederum wirkten gleichgültig. Wenn ich mir vorstellte, dass sich unter ihnen auch der Mörder befand, bekam ich eine Gänsehaut und musste schlucken.
Ich dachte auch darüber nach, ob ich indirekt am Tod dieses Mannes schuld war. Nein, den Schuh zog ich mir nicht an. Wir hatten ihn einfach wegschaffen müssen.
Aber wir hatten wieder mal den Beweis bekommen, dass dieses Viertel unzählige Augen und Ohren hatte. Wenn etwas passierte, sprach sich dies ungewöhnlich schnell herum, und man war auch sofort bereit, Konsequenzen zu ziehen.
Aber wer hatte den Auftrag gegeben?
Das wusste Suko nicht, und ich war ebenfalls ratlos. Aber es gab einen Verdacht, darüber brauchten wir erst gar nicht zu reden, und dieser Verdacht würde uns in das Dreifache Paradies lenken.
Das allerdings war nur die eine Seite. Es gab noch eine zweite, und dafür stand ein Name.
Shao!
Sie war verschwunden. Man hatte sie entführt. Durch Zufall war sie in diese Mühle hineingeraten.
Wer die Gnadenlosigkeit der Banden kannte, der konnte nur Angst um sie haben.
Suko trat nahe an mich heran. »Wir werden sie finden, John, das schwöre ich dir. Und wenn ich das ganze Viertel hier auseinander nehmen muss. Denk an meine Worte…«
***
Es gibt viele Neuigkeiten und Veränderungen auf der Welt, aber manche Dinge ändern sich nie. Das mussten Shao und Li erleben, als man sie in Teppiche einwickelte, um sie bequemer wegschaffen zu können.
Shao war nicht mehr bewusstlos, aber auch nicht voll da. Sie befand sich in einem Zustand, wie ihn ein Boxer erlebt, wenn er ausgeknockt im Ring liegt.
Sie hörte leise Stimmen, sie spürte, dass etwas mit ihr geschah und dass ihr Körper dabei fest gepresst wurde. Was man genau mit ihr machte, das blieb ihr verborgen.
Irgendwann wurde sie angehoben. Das passierte mit einer so heftigen Bewegung, dass ihr Kopf ruckte, plötzlich von Schmerzen durchzuckt wurde
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