1269 - Julie
Moment nach und schüttelte dann den Kopf. »Sie singen nicht mehr.«
»Ah, sie sind verstummt?«
»Nein. Jetzt sprechen sie.«
Ich zuckte leicht zusammen, weil ich mit dieser Antwort nicht gerechnet hatte. Tote, die singen - Tote, die sprechen. Ich kannte mich aus, das gab es, aber nicht die Toten selbst meldeten sich auf diese Art und Weise, sondern mehr ihre Seelen, die in den anderen Reichen keine Ruhe fanden. Ich hatte dabei schon die tollsten Überraschungen erlebt und war auch bereit, dem Mädchen zu glauben.
Julie hatte in den letzten Minuten eine Veränderung durchlebt. Auf den ersten Blick hin war sie die gleiche Person geblieben, aber ich schaute zwei Mal hin, und da fiel mir auf, dass etwas mit ihr passiert war. Sie machte auf mich den Eindruck, als hätte sie sich von der Umgebung gelöst und wäre dabei, sich auf etwas zu konzentrieren, das in einer großen Entfernung lag, aber nur von ihr wahrgenommen werden konnte.
So etwas wie ein Kontakt zu Ereignissen, die mir noch verborgen blieben.
Da sie in den vergangenen Sekunden nichts mehr gesagt hatte, sprach ich sie wieder an. »Wenn sie sprechen, Julie, kannst du dann verstehen, was sie sagen?«
Sie lächelte nur.
»Bitte, Julie, hör genau zu. Kannst du sie verstehen? Es ist wichtig für uns beide.«
»Sie sind so leise. Sie flüstern nur. Sie zischeln, aber sie sind in der Nähe.«
»Welche Toten meinst du denn?«
»Alle…«
»Die hier mal begraben wurden?«
»Das weiß ich nicht. Aber es sind viele Stimmen, und sie sind überall. In der Luft, in den Bäumen. Sie verstecken sich im Boden. Ich kann sie nicht sehen, nur hören…«
Das glaubte ich ihr. Aber warum konnte Julie die Stimmen hören und warum ich nicht?
Es gab da nur eine Lösung. Es musste etwas mit dem Lügenengel Belial zu tun haben. Er hatte ihr die Sinne dafür geöffnet, damit sie den Menschen voraus war. So einfach war das. Belial hatte sie zu etwas Besonderem gemacht.
Es war also eine Botschaft, die sie erhalten hatte. Noch konnte sie nicht herausfinden, was genau ihr gesagt wurde. Vielleicht musste ich noch länger warten, bis irgendwann der Zeitpunkt eintrat, wo auch sie sich mir gegenüber öffnete.
Es war Zeit vergangen, und Sina Franklin stand noch immer am Rand des Friedhofs und schaute zu uns herüber. Auch sie wollte wissen, was geschehen war, und deshalb rief sie meinen Namen.
»John, was ist denn passiert? Was ist mit Julie geschehen?«
»Warten Sie es ab.«
»Soll ich kommen?«
»Auf keinen Fall.«
Ich hatte die Antworten laut gesprochen, was Julie nicht gefiel. Sie blickte mich scharf an und fühlte sich gestört.
»Schon gut, Kleine, ich halte mich zurück.«
»Die Stimmen sind noch immer da.«
»Das ist gut. Dann wirst du sicherlich bald verstehen können, was sie dir sagen.«
»Sie mögen mich.«
»Ach?«
»Ja, ja«, flüsterte sie, »die Stimmen mögen mich. Ich glaube, sie haben auf mich gewartet.«
»Sehr schön für sie und dich. Jetzt bist du ja gekommen, und nun müsste doch etwas passieren, oder?«
Julie enthielt sich einer Antwort. Sie senkte den Kopf und schaute intensiv zu Boden, als wollte sie ihn mit ihren Blicken durchdringen und die Reste der hier Begrabenen finden.
Ich hatte noch immer nichts gehört, und ich fragte mich, ob es die Stimmen der Geister oder der Toten überhaupt gab. Die Frage war nicht unberechtigt, wenn ich daran dachte, dass hinter allem der Lügenengel Belial steckte. Möglicherweise war er derjenige, der hier alles inszenierte und mich an der Nase herumführte.
»Kannst du auch etwas sehen?«
Julie hob den Kopf nicht an. Sie schüttelte ihn nur und stieß nur schnell die Luft aus. Es war dunkel, und wir alle sahen irgendwie verändert aus.
Ich schaute sie sehr genau an, was aus dieser Nähe kein Problem war.
Ich sah auch die Schatten auf ihrer Haut, aber ich sah noch mehr. Sie hatte einen Schauer bekommen, und die kleinen Haare zitterten wie in einem leichten Windstoß. Etwas musste mit ihr geschehen sein, dass der Körper so reagierte.
Mir fiel ein, dass ich sie bisher nicht berührt hatte. Das holte ich jetzt nach. Meine Hand näherte sich ihrer rechten Schulter, streifte die Kleidung, glitt an ihrem Hals vorbei und erreichte die Wange des Mädchens.
Genau dort berührte ich sie.
Julie zuckte leicht zusammen. Das Gleiche passierte auch mit mir, denn sehr deutlich rann das Kribbeln in meine Finger hinein. Das war kein normales Anfassen gewesen, und die Haut hatte auch nicht normal darauf reagiert.
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