1269 - Julie
kühl vor. »Julie, bitte, du musst es mir sagen, was du erlebst. Ich will dir nur helfen, denn ich bin dein Freund. Kannst du das begreifen?«
Sie musste mich gehört haben. Nur nahm sie es einfach nicht zur Kenntnis.
Sie blickte an mir vorbei und schüttelte dann kurz den Kopf, als wollte sie etwas loswerden.
»Was hast du gehört?«
»Da war eine Stimme.«
»Der Engel also…«
»Nein, nicht er.«
Diesmal war ich überrascht. Deshalb fragte ich: »Es ist nicht der Engel gewesen?«
»Ja…«
»Wer war es dann?«
Sie hatte Probleme mit der Antwort und musste zunächst tief Luft holen.
»Das war ein Kind, glaube ich. Ein Mädchen…«
***
Ein Mädchen!
Ich hatte mich nicht verhört. Julie Wilson hatte tatsächlich von einem Mädchen gesprochen. Ich konnte nicht anders und musste einfach den Kopf schütteln. Aber ich sah auch die Unsicherheit in den Augen der kleinen Julie und fand auch meine Sprache wieder. »Hast du wirklich die Stimme eines Mädchens gehört?«
»Ja, habe ich.«
»Und kennst du die Stimme?«
»Nein.«
»Was hat sie gesagt?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe sie gehört, aber ich habe sie nicht verstanden.«
Sprach sie die Wahrheit oder log sie? Gerade das Lügen war so eine Sache, denn schließlich stand sie in einem engen Kontakt mit dem Engel der Lügen. Alles, was er von sich gab, entsprach seiner Wahrheit, und für uns Menschen konnten es Lügen sein.
Wir hielten uns noch immer im Schatten der ersten Grabsteine auf, und ich schüttelte mehrmals den Kopf, weil ich noch immer nicht glauben konnte, dass sich Belial mit der Stimme eines Mädchens gemeldet hatte.
Zuzutrauen war es ihm, denn er kannte alle Tricks.
Ich hätte mich eigentlich mit dieser Erkenntnis zufrieden geben müssen, aber irgendwie weigerte ich mich einfach, daran zu glauben.
Möglicherweise war das Gehörte doch keine Lüge gewesen oder keine Verstellung Belials. Hintergründe und Zusammenhänge waren mir leider noch nicht klar geworden.
Es war bereits etwas Zeit nach Julies Antwort vergangen. Wenn ich sie jetzt anschaute, sah ich sie schon verunsichert. Sie zog sogar ihre Schultern hoch, wie jemand, der sich unwohl fühlt.
»Kannst du nicht deutlicher werden, Julie?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Aber du hast die Stimme gehört?« Sie nickte.
»Klang sie nah oder fern?«
»Weit weg«, flüsterte sie. »Was sie gesagt hat, weiß ich nicht. Aber sie kannte meinen Namen, das habe ich behalten. Sie hat mich mit Julie angesprochen.«
Ich fragte weiter. »Es ist nicht die Stimme eines Kindes aus dem Heim gewesen - oder?«
»Die hätte ich erkannt. Ich kann auch keinen sehen. Vielleicht war sie auch die Stimme von einer Toten? Von einer Freundin, die gestorben ist. Das hat es auch gegeben.« Sie dachte noch immer darüber nach und senkte den Kopf.
Ich hörte Schritte in meiner Nähe, richtete mich auf und drehte mich um.
Sina Franklin kam auf uns zu. Sie schüttelte beim Gehen den Kopf und versuchte auch so etwas wie ein Lächeln fertig zu bringen, das natürlich gequält aussah.
»Was macht ihr hier? Warum haltet ihr ein? Habt ihr Angst vor den Gräbern! Wollt ihr wieder zurückkommen?«
»Nein, das ist es nicht.«
Sina fragte nicht weiter. Sie blickte Julie an. »Was ist mit ihr? Sie sieht so verändert aus.«
»Julie hat genau hier eine Stimme gehört.«
»Der Engel, nicht?«, flüsterte die Heimleiterin aufgeregt.
»Genau das ist nicht der Fall. Es war nicht der Engel, sondern eine andere Person.«
»Und wer genau?«
»Ein Kind. Ein Mädchen. Ja, da hat eine Mädchenstimme mit ihr Kontakt aufgenommen, aber Julie weiß leider nicht, wer es gewesen ist, obwohl sie darüber nachgedacht hat.«
Sina sagte nichts, obwohl sie ihren Mund bewegte. Sie schaute zum Friedhof und durch die Lücken zwischen den Grabsteinen. »Kam die Stimme vielleicht von dort, John?«
»Nein, das denke ich nicht. Sie war ebenso in ihrem Kopf wie die des Lügenengels.«
»Dann ist sie nicht allein - oder? Dann müssen wir davon ausgehen, dass es noch ein zweites Kind gibt, das in irgendeiner Verbindung mit ihr steht. Oder ist das falsch gedacht?«
»Ich denke nicht, Sina. Möglicherweise können Sie uns dabei helfen. Julie hat die Stimme nicht erkannt, aber das andere Mädchen kannte Julie, sonst wäre sie nicht angesprochen worden. Jetzt frage ich sie, hat Julie eine Freundin gehabt, die gestorben ist?«
Die Heimleiterin blickte mich an, als hätte ich ihr etwas Schlimmes gesagt. »Wie… wie … kommen Sie denn
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