1269 - Julie
Ich gab ihr die Chance.
Schließlich rang sie sich eine Antwort ab. »Angenommen, es stimmt, was Sie da gesagt haben, dann wissen nicht nur Sie über diesen Belial Bescheid, sondern auch Julie Wilson. Sonst hätte sie ihn wohl nicht gezeichnet - oder?«
»Davon könnte man ausgehen.«
Sina beugte sich vor und flüsterte ungläubig: »Ist er ihr dann richtig erschienen? Wie die Engel den Hirten auf dem Feld in der Weihnachtsgeschichte?«
Ich wollte sie nicht in eine Klemme bringen und sagte deshalb: »Ich weiß es nicht.«
»Aber Sie wissen schon mehr - oder?«
Ich wiegte den Kopf. »Nun ja, zwangsläufig. Ich beschäftige mich beruflich mit außergewöhnlichen Vorgängen, aber in diesem Fall ist der Engel nicht so wichtig für mich, sondern die Person, die ihn gezeichnet hat. Sie ist praktisch die Spur zu ihm, und ich werde Julie fragen müssen, ob es zwischen ihnen zu einem Kontakt gekommen ist.«
Noch immer staunend fragte Sina: »Denken Sie an einen Besuch in dieser Welt?«
»Nicht direkt. Man kann auch einen anderen Kontakt mit den Engeln bekommen. Sie sind in der Lage, Grenzen zu überwinden. Damit meine ich nicht nur die Dimensionen, sondern auch das Bewusstsein der Menschen. Sie schaffen es, dort hineinzugelangen. Es ist fast ein Wunder, es ist auch schwer zu erklären, aber man muss es akzeptieren, und sein eigenes Denken dabei erweitern.«
»Ja, ja«, murmelte die Erzieherin, »das sehe ich sogar ein, auch wenn ich es nicht so nachvollziehen kann, aber ich habe gelernt, immer nach Gründen zu fragen. Das mache ich auch jetzt. Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum ein Engel plötzlich Kontakt mit einem Kind aufnehmen sollte? Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Noch nicht. Aber ich gebe nicht auf. Ich bin durch die Zeichnungen tatsächlich alarmiert worden. Sie zeichnete die Engel zuerst so, wie sie die Mehrzahl der Menschen sehen. Als schöne, auch ätherische Geschöpfe. Dagegen habe ich auch nichts einzuwenden. Ich frage mich nur, was sie zu diesem Umschwung veranlasst hat. Wenn ich mir die letzten Zeichnungen anschaue, dann kann es sogar sein, als hätte sie den Engel plötzlich zu hassen begonnen. Sie hat ihre Striche wie wild aufs Papier gebracht. Auch die Schraffierungen in ihrem Innern sind ein Anzeichen darauf. Nicht weich, sondern sehr zackig gemalt. Man könnte sogar davon ausgehen, dass sie vorgehabt hat, irgendetwas zu zerstören. Aber das sind alles nur Vermutungen, die uns nicht weiterbringen.« Nach dieser langen Rede hatte ich Durst bekommen und trank erst mal einen Schluck Wasser.
Auch Sina Franklin trank, bevor sie fragte: »Was kann uns denn weiterbringen?«
»Julie Wilson.« Ich legte beide Hände auf die Lehne und deutete ein Aufstehen an. »Ich werde mit ihr genau über die Zeichnungen reden. Kann ich sie mitnehmen?«
»Wenn Sie wollen.«
»Danke.« Ich knickte die Blätter in der Mitte zusammen und steckte sie in die Innentasche der Wildlederjacke.
Überzeugt war Sina Franklin noch nicht. »Sie haben sie doch erlebt, Mr. Sinclair. Was ist denn, wenn Sie nicht mit Ihnen sprechen will? Sie mag sie nicht. Ich weiß nicht, aber es kann sogar sein, dass sie überhaupt keine Fremden mag.«
»Klar, Mrs. Franklin, es wird mir nicht eben eine große Freude bereiten, aber es gibt nur diesen einen Weg. Ich selbst kann den Engel, den sie gezeichnet hat, nicht herzaubern. Das ist nun mal so.«
»Klar, ich verstehe.« Sie räusperte sich, und dann war sie die Erste von uns beiden, die aufstand. Ihr Blick war dabei mehr ins Leere gerichtet »Ich kann mir nicht helfen, Mr. Sinclair, aber sehr große Chancen sehe ich für uns nicht.«
»Das bin ich gewohnt«, erwiderte ich, »aber ich bin es gewohnt, auch kleine wahrzunehmen. In meiner beruflichen Laufbahn hat mich bisher immer die Politik der kleinen Schritte weitergebracht und das Hinausschauen über den Tellerrand.«
»So etwas Ähnliches deutete auch Purdy an. Sie hält große Stücke auf Sie.«
»Purdy übertreibt immer etwas.«
Sina schaute mich skeptisch an. »Das glaube ich nicht. So wie Sie reagiert haben, das war schon ungewöhnlich. So etwas kann man von einem normalen Polizisten nicht erwarten, womit ich nicht sagen will, dass ich Sie als unnormal ansehe.«
»Das habe ich auch nicht gedacht.«
»Gut, dann gehen wir zu ihr.«
Ich verließ hinter Sina Franklin das Büro und wunderte mich schon sehr bald über die Ruhe, die im Heim herrschte. Auf meine Frage hin hob Sina zuerst die Schultern.
»Das ist leicht
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