1269 - Julie
zu erklären«, sagte sie dann, »schauen Sie auf die Uhr. Das Essen ist vorbei. Danach herrscht bei uns Bettruhe. Zumindest für die Jüngeren. Die Älteren hocken vor dem Fernseher, und auf dem Gelände strolcht auch niemand herum. Einmal muss Schluss sein. Da wollen auch meine Kolleginnen Feierabend haben.«
»Sie wohnen aber nicht hier bei den Kindern - oder?«
Die Erzieherin schüttelte den Kopf. »In der Regel nicht. Es gibt Ausnahmen, wenn etwas Besonderes anliegt am nächsten Tag. Dann übernachten wir hier.«
»Und was ist mit Ihnen?«
Sie lächelte etwas schief und schaute dabei zu Boden. »Ich teile mir das auf. Manchmal schlafe ich in meiner kleinen Wohnung im Ort, aber ich bin in der meisten Zeit schon hier.« Sie deutete gegen die Decke mit dem hellblauen Anstrich. »Unter dem Dach habe ich mir zwei kleine Räume eingerichtet. Wer ein Heim leitet wie ich, der hat sich jede Menge Verantwortung aufgebürdet.«
»Da sagen Sie was.«
Ob das Regiment hier streng war oder nicht, hatte ich noch nicht herausgefunden. Eine gewisse Ordnung herrschte schon, und das war sicherlich Sina Franklin zu verdanken. Es lag nichts im Flur herum, die Wände waren nicht durch irgendwelche Sprüche verschmiert worden, und an verschiedenen Stellen sah ich die selbstgemalten Bilder der Kinder. Engelmotive befanden sich allerdings nicht darunter.
In der Regel wohnten die Kinder nicht in Einzelzimmern. Bei Julie hatte man eine Ausnahme gemacht, weil sie eben so auffällig geworden war.
Vor meinem ersten Besuch bei ihr hatte ich mit Sina Franklin über das Kind gesprochen und erfahren, dass Julie sich mit den anderen Kindern nicht vertrug. Da war es schon besser, wenn man sie für eine gewisse Übergangszeit isolierte.
Wir waren eine Etage höher gegangen und hatten uns nach rechts gewandt, wo der Flur in einer größeren Nische endete. Dort malten sich zwei Türen ab.
Ich wollte wissen, was Julie tat und neigte ein Ohr gegen die Tür. Es war nichts zu hören.
»Sie scheint ruhig zu sein.«
»Das hoffe ich doch.«
Ich trat zur Seite. »Bitte, gehen Sie vor.«
Die Heimleiterin war höflich. Bevor sie eintrat, klopfte sie kurz an und auch so laut, dass es nicht zu überhören war.
Eine Antwort gab es nicht.
»Dann wollen wir mal«, sagte Sina Franklin und öffnete die Tür.
Weit kam sie nicht. Nach einem Schritt blieb sie stehen. Aus ihrem Mund löste sich ein Laut der Verwunderung.
Ich schaute an ihr vorbei. Mit einem Blick erkannte ich, dass sich Julie Wilson nicht mehr im Zimmer befand…
***
Dafür aber stand das Fenster offen. Somit lag auf der Hand, welchen Weg sie genommen hatte.
Sina Franklin schüttelte den Kopf. Sie war ärgerlich, das sah ich ihr an, aber sie hatte sich in der Gewalt. Sie schüttelte nur leicht den Kopf und flüsterte: »Das gibt es doch nicht, Mr. Sinclair, das hat sie noch nie getan.«
»Wir stehen aber vor dem Gegenteil.«
»Das ist leider richtig.«
Ich schob mich an ihr vorbei und schaute mich um. Es war alles wie zuvor.
Nichts hatte sich verändert. Noch immer lagen die Sachen herum, verteilt auf dem Bett und dem Boden. Julie war verschwunden und hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, das Fenster von außen zuzudrücken.
Ich ging hin und lehnte mich hinaus. Es war auch jetzt noch nicht dunkel geworden, aber die Dämmerung hielt bereits ihre mächtigen Schatten ausgestreckt und schickte sie über den Maihimmel hinweg.
Das Heim lag nicht mitten in der Stadt. Es hatte seinen Platz eigentlich nicht mal in London, sondern in einem der Vororte im Westen. Auch da lag es nicht direkt im Dorf selbst, sondern wieder etwas abseits, umgeben von einem kleinen Park mit hohen Bäumen und eingebettet in ein leicht welliges Gelände, das zur Themse hin abfiel.
An den Bäumen bewegte sich das frische Laub im Wind mit leichtem Zittern. Ich sah einen Weg, der in den Park hineinführte, in dem auch ein Spielplatz und ein von den Kindern gepflegter Garten mit frischen Sommerblumen lag. Der normale Eingang lag auf der anderen Seite, und so streifte mein Blick durch den Park.
Ich hörte, dass sich Sina Franklin mir näherte. Nicht weit von mir entfernt blieb sie stehen. »Haben Sie etwas gesehen, Mr. Sinclair?«
»Wenn Sie damit Julie meinen, muss ich Sie enttäuschen.«
Sie atmete scharf ein. »Mein Gott, wo kann sie nur stecken? Ich habe nicht mal einen Verdacht.«
»Ist sie zum ersten Mal auf diese Art und Weise verschwunden?«, erkundigte ich mich.
»Ja.«
»Das wissen Sie
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