127 - Das Aruula-Projekt
umrahmten. »Du nicht!«, wurde Ninian aufgefordert. »Zurück in den Wagen!«
Hastige Handbewegungen unterstrichen ihren Befehl.
Sie gehorchte. Es war nicht die Zeit, Widerstand zu leisten.
Noch nicht.
Die Frau kletterte ebenfalls ins Innere. »Du bist ein hübsches Mädchen.«
Ninian nickte ohne zu zögern.
»Und ein selbstbewusstes noch dazu! Ich glaube, es wird leicht werden, dich zu verkaufen. Vielleicht wirst du es gut haben, wo immer du hinkommst.« Dann, leiser, fügte sie hinzu:
»Ich würde es dir wünschen, kleine Fee.«
Ninian sah die Frau an.
»Was für große unschuldige Augen du hast.« Ihre Stimme war ein Hauch, und Ninian musste genau hinhören, um die Worte zu verstehen. Die Frau griff in ihre Tasche und zog ein zusammengerolltes Stück Papier heraus. »Sieh her, Kind.«
Das Bild zeigte einen Mann mit langen weißen Haaren und roten Augen. Doch so ungewöhnlich es auch war, Ninian empfand keinerlei Schrecken bei dem Anblick. Denn die roten Augen sahen nicht böse aus, sondern blickten sie beinahe sanft an.
»Das ist ein Aynjel, Kind«, sagte die Frau. »Sieh nur genau hin. Weißt du, Aynjel sind überall um uns herum. Sie beobachten uns. Dich auch, Kind. Sie passen auf dich auf.«
Noch nie in ihrem Leben hatte Ninian etwas so sehr besitzen wollen wie dieses Bild.
»Eines Tages wirst auch du einem Aynjel gegenüberstehen. Deinem Aynjel. Deshalb brauchst du keine Angst zuhaben. Dein Aynjel wartet auf dich.«
Ninian streckte ihre Hand nach dem Bild aus. »Darf ich es haben?«, wollte sie fragen, und tatsächlich kamen leise Töne aus ihrer Kehle. Es waren die ersten Worte, die sie seit Jahren sprach. Ihr Herz begann heftig zu klopfen.
»Es ist uralt, mein Kind. Es stammt aus der Zeit vor Kristofluu.«
(Wie dieses abgerissene Taschenbuchcover des Romans »Elric von Melniboné« allerdings in die Hände der Sklavenhändlerin gekommen ist, ist unklar.)
»Darf ich es haben?«, flüsterte Ninian erneut, fasziniert vom Klang der eigenen Stimme, die sie so lange nicht gehört hatte.
Danach sollte sie nie wieder das Versprechen brechen, das sie sich im Haus ihrer Verwandten selbst gegeben hatte. Sie änderte es nur ein wenig ab. Sie würde nicht mehr sprechen, bis sie eines Tages einem Aynjel gegenüberstand.
Und keine Angst mehr zu haben brauchte.
***
»Er sieht fast so aus wie Rulfan«, sagte Aruula zu Ninian. »Im ersten Moment dachte ich, er sei es.«
Rulfan? Diesen Namen hatte sie nie gehört. Sie sah die Kriegerin fragend an.
»Warum zeigst du es mir? Bist du auf der Suche nach diesem Mann?«
Ninian spürte, wie die Worte der Kriegerin sie aus der Ruhe brachten. Sehnsüchte drängten mit Macht an die Oberfläche, denn nichts begehrte sie so sehr, wie eines Tages einen Aynjel zu sehen.
Hastig rollte sie das Bild wieder zusammen und verstaute es sicher in seinem Behältnis.
»Ich kann dich verstehen«, sagte die Kriegerin, »denn auch ich bin auf der Suche. Ich suche meinen Gefährten Maddrax.«
Ninian schüttelte den Kopf. Einem Mann war sie nicht begegnet, seit sie die Ödnis betreten hatte. Fast bedauerte sie es, denn in den Worten der Kriegerin lag eine unendliche Sehnsucht und Einsamkeit.
Ninians Gedanken schweiften ab. Rulfan… ein Mann, der aussieht wie ein Aynjel? Konnte es das tatsächlich geben?
Konnte es sein, dass ein Aynjel auf der Erde wandelte und dass Aruula ihm begegnet war?
Ninians Herzschlag beschleunigte sich. Ihre Gedanken gerieten in Unruhe. Die Disziplin aus zwanzig Jahren drohte sich in diesen Sekunden aufzulösen unter der Wucht dieses ungeheuerlichen Gedankens.
Aber das durfte nicht sein!
Sie schalt sich selbst, dass sie es überhaupt zugelassen hatte, dass sie von ihrem Auftrag abgelenkt wurde. Der Auftrag war wichtiger als alles andere.
Sie bedeutete der Kriegerin, dass sie nun weiterziehen müsse.
»Warte!«, forderte diese sie auf. »Lass uns zusammen gehen!«
Doch Ninian winkte ab. Sie hatte sich schon viel zu lange hier aufgehalten. Jetzt, da das Rätsel um die doppelte Aruula geklärt schien, hielt sie nichts mehr hier. Sie versuchte der Kriegerin klarzumachen, dass sie hier bleiben solle.
Dann wandte sie sich ab und rannte los. Erleichtert merkte sie, dass Aruula ihr nicht folgte. Sie hatte viel Zeit verloren. Zu viel Zeit möglicherweise.
Bald verfiel sie wieder in jenen monotonen Lauf, den sie über viele Stunden durchhalten konnte. Doch das Geräusch ihrer Schritte verwandelte sich in ihren Gedanken in einen Namen, dessen beide
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