127 - Das Aruula-Projekt
sie gegen einen Unsichtbaren, oder schlimmer noch, gegen eine bloße Einbildung.
»Ich habe nicht den Verstand verloren«, verteidigte sie sich.
»Du hast meinen Gegner nur nicht gesehen. Er war hier, und nachdem ich ihn getötet habe…« Sie unterbrach sich. Nachdem ich ihn getötet habe, ist er wieder auferstanden und hat mich des Mordes angeklagt? Nein, die Wahrheit konnte sie unmöglich erzählen.
Die Rothaarige sah nicht so aus, als hätten Aruulas Worte sie überzeugt. Mit Gesten bedeutete sie ihr, dass sie es gewesen war, die Aruula niedergeschlagen hatte – um sie vor sich selbst zu schützen. Damit war klar, dass sie nicht an einen unsichtbaren Feind glaubte.
In dem folgenden Schweigen betrachte Aruula sie genauer.
Sie war ein zierliches, schlankes Wesen mit ebenmäßigen Gesichtszügen. Ihr Alter ließ sich schlecht schätzen, doch der erste Eindruck, es mit einem halben Kind zutun zuhaben, musste täuschen. Dazu waren ihre weiblichen Körperformen zu ausgereift.
Aruula konnte sich gut vorstellen, dass Männer bei ihrem Anblick den Verstand verloren – ein makabrer Vergleich angesichts dessen, was ihr selbst in dieser Ödnis drohte. Die spärliche Kleidung tat ihr Übriges zu diesem Eindruck.
Zwischen Bändern aus schwarzem Leder war überall nackte Haut zu sehen.
Doch ihr entging auch nicht, dass die Andere Stiefel trug, in denen sie aller Wahrscheinlichkeit nach Waffen verbarg; Aruulas geschulter Blick erkannte die verräterischen Ausbeulungen. Außerdem gab es, kaum wahrnehmbar in dem raffinierten Geflecht aus Leder, unauffällige kleine Taschen.
»Du erweckst zwar äußerlich nicht den Eindruck, aber ich denke, du bist eine Kriegerin – ebenso wie ich«, eröffnete Aruula.
***
Ninian war erstaunt darüber, in welcher Klarheit die vermeintlich Verrückte zu denken vermochte – womöglich hatte sich sie in ihr getäuscht.
Dass die Zwillingsfrau aus eigenem Antrieb abstritt, verrückt zu sein, sprach allerdings nur bedingt für sie. Es war ein typisches Verhalten von tatsächlich Geistesgestörten, das Ninian schon mehrfach beobachtet hatte. Und dann die Behauptung, von einem unsichtbaren Feind angegriffen worden zu sein… Zwar war Ninian schon unzähligen Mutanten begegnet und hatte dabei vieles zu glauben gelernt, aber es war noch keiner mit dieser Fähigkeit darunter gewesen.
Doch dann verblüffte die andere sie. »Du erweckst zwar äußerlich nicht den Eindruck, aber ich denke, du bist eine Kriegerin – ebenso wie ich.«
Ninian war in hohem Maße erstaunt. Niemand hatte sie bislang gleich bei der ersten Begegnung durchschaut; die meisten erst in der Sekunde ihres Tods. Fast alle hielten sie für harmlos, für ein gutes Opfer möglicherweise, wie zuletzt der Kerl in der Spelunke.
Sie beschloss, mit der Wahrheit nicht hinter dem Berg zu halten, und nickte.
»Ich bin Aruula«, sagte die andere unvermittelt.
Das musste ihr Name sein. Ninian sah sich um, griff zu einem abgebrochenen Zweig und schrieb ihren eigenen Namen in den Sand. Auch wenn sie wenig Hoffnung hatte, dass die Kriegerin des Lesens mächtig war.
Wieder wurde sie verblüfft. »Ni-ni-an«, buchstabierte Aruula mit konzentrierter Miene. »Du heißt Ninian!«
Offensichtlich hatte sie diese Barbarin falsch eingeschätzt.
Ninian blickte einen Moment auf den Zweig in ihrer Hand, dann beschloss sie, mit seiner Hilfe die Frage zu klären, die ihr das größte Rätsel aufgab.
Ich habe dich am See gesehen, schrieb sie in der Sprache der Wandernden Völker in den Sand. Wie kommst du hierher?
Diesmal dauerte es länger, bis Aruula die Schriftzeichen entziffert hatte, aber dann zeigte ihre Miene eine seltsame Mischung aus Erschrecken und Freude.
»Du hast sie also auch gesehen?«, fragte sie. »Mein lebendiges Spie…«, sie brach ab und begann neu: »… mein Ebenbild am See?«
Ninian runzelte die Stirn. Offenbar hatte die Barbarin eine Zwillingsschwester – was das Rätsel erklärte –, doch warum schien sie darüber so erstaunt? Sie nickte und kratzte: Was ist mit ihr? in den Boden.
Aruula atmete tief ein, zögerte – und sagte dann schließlich:
»Sie… ist ein Spuk.«
Ein Spuk? Ninian war sich nicht sicher, ob sie dieses Wort richtig deutete. Fragend öffnete sie die Handflächen und drehte sie nach außen.
»Eine Erscheinung aus dem Reich der Toten.«
Ninian zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte zwar von solchen Dingen schon gehört, war jedoch der Überzeugung, dass es keine Wiedergänger aus dem Jenseits
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