1280 - Der Engel und sein Henker
über sich selbst, dass sie in der Lage war, zu sprechen.
»Was meinst du mit früher? Wer bist du? Was soll ich früher denn getan haben?«
»Aber Martha..«
Lavinia schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht nur den Namen gehört, sondern auch den Vorwurf herausgehört. Was meinte er mit Martha? Wer war diese Frau?
Sie wiederholte den Namen, und dabei sah sie, wie der Henker langsam nickte.
»Wer ist Martha?«
»Du!«
»Nein, ich bin nicht Martha. Ich heiße Lavinia, und zwar Lavinia Kent. Ich kenne keine Martha.«
»Martha ist meine Frau gewesen, und du bist Martha. Wir beide waren miteinander verheiratet, und jetzt habe ich dich wiedergefunden, meine Liebe.«
Lavinia fasste es nicht. Sie hatte oft den Vergleich gelesen, wie es ist, wenn sich bei einem Menschen der Boden öffnet und ihn das Erdreich verschlingt. Genauso kam sie sich vor. Zwar stand sie noch mit beiden Beinen fest darauf, aber sie hatte das Gefühl, tief eingesunken zu sein und allmählich weggeschwemmt zu werden. Das, was sie hier gehört hatte, war nicht zu glauben. Das ging einfach über ihr Begriffsvermögen.
Sie sollte Martha gewesen sein und zugleich noch die Ehefrau eines Henkers?
Nein - unmöglich!
Aber gab es das überhaupt? Lavinia erinnerte sich auch daran, dass sie zwar an Schutzengel irgendwie geglaubt hatte, sich aber nie vorstellen konnte, dass es sie tatsächlich auch gab und sie ihrer Schutzfunktion nachkamen wie bei ihr.
»Ich lebe hier und jetzt!«
»Es stimmt!«
»Also kann ich nicht…«
Jetzt hatte sie gegen ihre Überzeugung gesprochen, und der Henker fing diesen Ball sofort auf.
»Doch, Martha, du kannst. Es gibt nämlich Menschen, die mehrmals leben. Die wiedergeboren werden, und das bist du, meine Liebe.«
Jetzt wusste sie endgültig Bescheid. Es war ihr auch klar, aus welch einem Grund der Henker erschienen war. Er war nicht tot, und er wollte sie - seine Frau - zurückhaben.
Lavinia hasste die Vertrautheit, mit der sie angesprochen worden war. Nicht im Traum dachte sie daran, diesen Gedanken zu folgen. Sie sollte die Frau eines Henkers sein. Das mochte in der Vergangenheit der Fall gewesen sein, aber diese Zeit war dahin. Hunderte von Jahren schon. Jetzt zählte nur die Gegenwart, da hatten die vergangenen Zeiten nichts zu suchen.
Und doch würde sie sich damit auseinandersetzen müssen. Mit ihm besonders, dem brutalen Henker, durch dessen Beil bestimmt Hunderte von Menschen ihr Leben verloren hatten.
War er vielleicht auch wiedergeboren worden?
Nein, daran glaubte sie nicht. Und wenn, dann hatte er sich nicht verändert. Das war jedoch bei ihr der Fall gewesen, denn sie sah heute bestimmt nicht so aus wie die Frau des Henkers zur damaligen Zeit. Wenn er nicht wiedergeboren war, dann hatte er eben überlebt, und zwar in seinem gesamten verfluchten Aussehen. Er hatte mit den finsteren Mächten einen Pakt geschlossen und überlebt.
So viel schoss der Psychologin durch den Kopf, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Doch sie merkte, dass ihre Angst etwas abnahm.
»Wer bist du? Wer bist du wirklich, verflucht?«
Der Mund zuckte. Dann löste sich das Lachen. »Ich bin genau der, den du kennst und an den du dich erinnern musst. Die Hölle kann gnädig sein, wenn man sich auf ihre Seite stellt.«
»Die Hölle…?«
»Ja, Martha, ja…«
Lavinia war dieser Name noch immer sehr fremd. Sie war zwar gemeint worden, aber das wollte sie nicht akzeptieren. Und trotzdem musste sie mehr über Martha und letztendlich auch über sich selbst wissen. Deshalb bemühte sie sich, die Dinge hier rational zu sehen. Denn das Geheimnis ihrer Gegenwart steckte in der Vergangenheit.
Sie zeigte ein Lächeln, auch wenn es ihr schwer fiel. Dann breitete sie die Arme aus und hoffte, durch ihre Hilflosigkeit überzeugen zu können. »Ich weiß nichts mehr über die alten Zeiten. Du kannst mir sagen, was du willst. Ich erinnere mich nicht. Aber du könntest mich vielleicht darüber aufklären, wie es damals gewesen ist. Was ist in der Zeit geschehen, als wir…«, jetzt musste sie schlucken, »als wir zusammen gewesen sind. Kannst du mir das sagen?«
Der Henker blieb ruhig, und genau das sah Lavinia schon als einen Vorteil an. Sie war wirklich neugierig und wollte so viele Dinge erfahren. Auf der anderen Seite dachte sie auch daran, Zeit zu gewinnen.
»Wir waren ein Paar. Du und ich. Sehr jung bist du gewesen, als ich dich holte.«
»Holte?«, flüsterte sie. »Woher hast du mich geholt?«
»Von deinem Zuhause. Es ist
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