1294 - Der kopflose Engel
ich verstehe schon, wie du das gemeint hast. Es gab für mich einen Grund. Zuerst wollte ich sehen, ob ich mich geirrt habe. Das war nicht der Fall. Es blieb dabei. Später hat mich dann die Neugierde immer wieder in die Kirche getrieben. Ich wollte sehen, ob sich das Gesicht verändert. Ich wäre auch noch Jahre hingegangen, um zu erfahren, ob es zusammen mit mir altert. Jetzt ist alles anders gekommen. Jemand hat dem Engel den Kopf abgeschlagen. Einfach so, und mit einem glatten Schnitt.«
»Haben Sie einen Verdacht, wer das getan haben könnte?« fragte ich.
»Nein, keinen.«
»Was ist mit dem Küster?« So leicht ließ ich nicht locker.
Mabel drückte mit einer zaghaften Bewegung die Schultern hoch. »Ich sagte Ihnen schon, dass dieser Mann integer ist. Er kann es nicht gewesen sein. Er hat mich immer unterstützt. Auch heute schloss er mir die Kirchentür wieder auf. Er ließ mich immer allein.«
»Kannte er den Grund Ihres Kommens?«
»Ja, er kennt den Engel.«
»Wie reagierte er?«
Mabel lächelte. »Überhaupt nicht, wenn Sie so wollen. Er war rücksichtsvoll genug, dieses Thema nicht anzusprechen. Wenn er überhaupt eine Reaktion zeigte, dann war es ein ehrliches oder wissendes Lächeln. Er konnte mich verstehen.«
Diese Aussage mussten wir so hinnehmen und auch stehen lassen. Dass Jane so dachte, sah ich ihr an.
»Hier, John, werden wir die Lösung wohl nicht finden. Ich denke, wir müssen uns am Ort des Geschehens umschauen - oder?«
»Das meine ich auch.«
»Ihr wollt hin?«, flüsterte Mabel. Sie umfasste mit den Fingern krampfhaft die Lehnen.
»Das denke ich.«
Der Meinung war ich auch. Zudem war die Nacht noch nicht angebrochen. Noch immer konnte man diese Zeit als Abend bezeichnen, auch wenn draußen die Dunkelheit gegen die Scheiben drückte und nur wenig Licht seinen Schein abgab.
Die beiden verhältnismäßig kleinen Fenster des Raumes lagen zum Hof hin. Er war ausgebaut und stark renoviert worden und diente praktisch als Nachbarschaftstreff.
Allerdings mehr im Sommer. Da versammelten sich Menschen aus den umliegenden Häusern, um die schöne Zeit bei einem gemeinsamen Drink und Plausch zu genießen.
Wir hatten Mabel Denning noch nicht danach gefragt, wo wir hinmussten. Ich wollte es tun und schaute sie nicht direkt an, sondern noch immer auf eines der Fenster.
Hinter der Scheibe bewegte sich etwas.
Zuerst dachte ich an eine Täuschung. Noch immer trudelten Blätter von den Bäumen. Da war es möglich, dass ich eines davon hatte vorbeifliegen sehen. Ein Blatt war es nicht gewesen. Dafür war die Bewegung einfach zu schnell gewesen.
Ich war schon etwas irritiert, behielt meine Blickrichtung allerdings bei.
»Was hast du, John?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Mir ist etwas aufgefallen. Eine Bewegung hinter der Scheibe.«
»Und?«
»Ins Moment bin ich ratlos.«
»Laub.«
»Hatte ich auch angenommen, trifft aber nicht zu und…«
Da war es wieder!
Etwas huschte von rechts nach links an der Scheibe vorbei, und es war verdammt schnell und zugleich lautlos. Ich hatte es nicht identifizieren können, doch die Form war mir schon ins Auge gefallen. Es hatte rund ausgesehen, und so lag der Vergleich mit einem geworfenen Ball nicht fern.
Nur - wer warf hier einen Ball? Zudem vom Hof her und, so hoch, dass er am Fenster vorbeisegelte?
Ich stand auf.
»Wo willst du hin?«
»Nur am Fenster nachschauen.«
Es war plötzlich sehr still im Zimmer geworden. Jeder schien zu spüren, dass hier etwas nicht stimmte, und mir machte dieses unbekannte Flugobjekt auch gewisse Sorgen.
Vor dem Fenster hielt ich an. So dicht, dass ich bereits die Kante der Fensterbank berührte.
Der Gegenstand war nicht mehr da!
Damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Die Hand hatte ich bereits nach dem Griff ausgestreckt, als es passierte.
Aus dem Dunkel flog der Gegenstand heran. Sehr schnell und dabei direkt auf die Scheibe zu. Unwillkürlich zuckte ich zurück. Ich musste auch damit rechnen, dass dieses Ding in die Scheibe einschlug und mir die Splitter ins Gesicht flogen.
Im wirklich allerletzten Augenblick stoppte der Gegenstand ab. Nur fiel er nicht zu Boden, wie man es hätte erwarten können. Er blieb vor der Scheibe stehen und schaute hindurch.
Ja, er schaute, denn es war ein Kopf, ein Gesicht, und zu dem gehörten auch Augen.
Es war der Kopf des Engels!
Obwohl es dunkel war, erkannte ich sein Gesicht. Die Ähnlichkeit mit dem der Mabel Denning war wirklich frappierend…
***
Hätte ich
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