1294 - Der kopflose Engel
klopfte schneller.
Du musst frei werden!, hämmerte sich Mabel ein. Du darfst dich nicht verrückt machen lassen! Es ist alles bisher günstig für dich gelaufen. Du musst auch den Tod deines Vaters vergessen. Es gibt nichts, was dich ängstigen könnte, auch er nicht, denn er gehört zu dir. Er befindet sich hier in der Kirche. Er wartet auf dich. Nur seinetwegen bist du gekommen.
Es stimmte alles, was sie sich einredete. Trotzdem konnte sie ihren Zustand nicht verändern.
Wenn sie weiter nach vorn ging, würde sie den Altar erreichen. Da wollte sie nicht hin. Ihr Besuch in der Kirche hatte einen ganz anderen Grund.
Es ging um den Engel!
Er war der einzige Grund. Und er war auch einmalig. Nicht, weil er als einzige Figur sich hier in der Kirche aufhielt, es gab noch einen anderen, ganz speziellen Grund für sie. Deswegen kam sie so oft wie möglich her, um ihn sich anzuschauen.
Der Engel besaß ihr Gesicht!
Schrecklich, wunderbar, auch schaurig. All diese Eigenschaften passten dazu.
Ein Engel mit ihrem Gesicht!
Mabel dachte daran, wie sie die Kirche zum ersten Mal betreten und den Engel gesehen hatte. Zuerst war sie erschrocken gewesen. Dann hatte sie es akzeptiert, war aber weggelaufen und hatte sich eine ganze Weile nicht wieder in die Kirche getraut.
Später war sie dann hingegangen und glaubte daran, dass der Engel wirklich schön war. Er bestand zwar aus Holz, trotzdem wirkte sein Körper auf sie nicht so starr, sondern eher fließend.
Am Altar fand sie ihn nicht. Um ihn zu sehen, musste sie nach links gehen, denn dort wurde das Grau der Dunkelheit, das sich immer in dieser Wandnische sammelte, vom Schein der Kerzen unterbrochen, die ihr Licht gegen diese einmalige Figur warfen.
Es hatte ihr das Gesicht des Engels gezeigt. Durch das Licht hatte sie erfahren, wie sehr diese Figur ihr glich. Das war einfach wunderbar gewesen. Sie liebte es plötzlich, diesen Engel zu sehen, und sie hatte dabei das Gefühl, dass er ihr Kraft einflößte.
Auch heute.
Weg mit der Angst!
Sich wieder erneuern. Keine bedrückenden Gefühle mehr, die sie in der letzten Zeit überfallen hatten und von denen sie nicht wusste, woher sie stammten.
Es gab einen Grund, doch der hatte nichts mit dem Engel zu tun, da war sie sicher.
Sehr langsam drehte sie sich herum. Mabel trug einen hellen, gefütterten Mantel. Er, hatte die Feuchtigkeit aufgenommen und gab sie jetzt ab. Sie nahm den leicht muffigen Geruch wahr und zog einige Male die Nase hoch.
Allmählich schälte sich die Nische aus dem allgemeinen Dunkel hervor. Sie sah die beiden Kerzen, deren Flammen in die Höhe gerichtet waren und so starr wie Finger aussahen. Es gab keinen Luftzug, der sie bewegt hätte. Beide Kerzen standen etwa 80 Zentimeter auseinander und bildeten den Rahmen für die an der Wand hängende Engelsfigur.
Mabel ging auf die zu.
Sie hörte nicht auf ihre schlurfenden Schritte, der Blick richtete sich nach vorn. Sie dachte an nichts mehr, denn jetzt war für sie einzig und allein der Engel wichtig.
Ja, da hing er.
Ihre Lippen zuckten leicht unter dem Lächeln. Mabels Augen begannen zu glänzen. Die hatten mittlerweile die Figur erreicht, die sie eigentlich, hätte froh machen sollen.
Heute nicht…
Das wiederum sorgte bei ihr für einen neuen Angstschub.
Warum? Warum habe ich dieses Gefühl? Es ist doch alles in Ordnung, das weiß ich.
Weitergehen! Sie trieb sich an. Setzte einen Fuß vor den anderen. Verkürzte die Entfernung und sah den Engel jetzt deutlicher. Er hing an der Wand, und es war für sie noch immer wie ein kleines Wunder, ihn überhaupt zu sehen.
Etwas stimmte nicht mit ihm…
Mabel blieb stehen. Sie traute sich plötzlich nicht mehr weiter. Wieder beschleunigte sich ihr Puls.
Schweiß bildete sich unter dem Kopftuch in Halshöhe auf ihrer Haut. Eine innere Stimme war plötzlich zu hören, die Mabel warnte.
»Lauf weg - lauf lieber weg…«
Nein, sie blieb. Der Engel war für sie. Die Figur stand in direktem Zusammenhang mit ihr, und es gab wirklich keinen Grund, davonzulaufen.
Wieder gab sie sich einen Ruck. Noch wenige Schritte, dann…
Nein, sie ging nicht so nahe heran wie sonst. Der Abstand blieb größer, und ihre Augen weiteten sich in Zeitlupe. Der Mund öffnete sich ebenfalls, aber Mabel war nicht in der Lage, zu schreien.
Der Schreck hatte sie wie ein brutaler Hammerschlag getroffen. Es war Wahnsinn, was sie dort sah.
An der Wand hing der Engel. Doch Mabel sah nur seinen Torso. Jemand hatte ihm den Kopf
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