1294 - Der kopflose Engel
sehen war.
Außerdem konzentrierte ich mich auf den Weg, der mit dunklen Steinen bedeckt war. Sie selbst glänzten kaum. Es war vielmehr das nasse Laub, das klebrig auf ihm lag und schimmerte.
Ich hielt die Lampe nach unten gerichtet. Der Kegel zerfaserte und wanderte über das Laub hinweg.
Je weiter ich ging, um so bedrückender wurde mein Gefühl.
Plötzlich blieb ich stehen!
Ich hatte etwas gesehen!
Es lag auf dem Boden, und ich erkannte, dass es sich um einen größeren Gegenstand handelte.
Im ersten Moment sah das Ding aus, als hätte man es abgelegt und vergessen, wieder mitzunehmen.
Hinter mir waren auch die Frauen stehen geblieben, und auf meine rechte Schulter legte sich eine Hand.
»John, was ist das?«, fragte Jane.
»Halte Mabel zurück«, erwiderte ich mit kehliger Stimme.
»Gut.«
In meinem Magen hatte sich ein Klumpen gebildet. Ich ahnte Schreckliches, und diese Ahnung wurde zur Gewissheit, je näher ich an den Gegenstand herantrat.
Es stimmte. Ich brauchte nicht noch mal hinzuschauen. Vor meinen Füßen lag eine Gestalt, die sich nicht bewegte. Es war ein Mann, das sah ich auch, und ich sah noch mehr, das mir einen regelrechten Tiefschlag versetzte.
Der Mann besaß keinen Kopf mehr.
Man hatte ihn ihm abgeschlagen. Wie ein Klumpen war er am Wegrand liegen geblieben…
***
Es war leider keine Einbildung. Es gab den Körper, es gab den Kopf, und es gab dessen bleiches Gesicht, über das leichte Dunstschwaden hinwegtrieben.
Ich schwitzte, obwohl es kalt war. Ich war nicht so abgebrüht, dass dieses Bild mich unbeeindruckt gelassen hätte, denn mit einem derartigen Fund hätte ich nicht gerechnet, auch wenn meine Ahnungen nicht eben positiv gewesen waren.
Zum Glück waren die beiden Frauen hinter mir stehen geblieben. Ich holte sie auch nicht heran, sondern drehte nur den Kopf, um Jane ein Zeichen zu geben.
Neben ihr stand Mabel. Wahrscheinlich hatte sie etwas gesehen, doch sie schaute nicht in meine Richtung. Es war gut so, denn so bekam sie den schrecklichen Anblick nicht mit.
Jane glitt auf mich zu. Ihr genügte ein Blick. Ich sah, wie sie den Mund zusammenpresste und nickte. Die Lampe ließ ich in eine andere Richtung leuchten und flüsterte Jane zu: »Kümmere du dich um Mabel.«
»Klar. Was hast du vor?«
»Ich werde in die Kirche gehen.«
»Da bin ich dabei.«
Ich brauchte ihr keine weiteren Ratschläge zu geben. Jane Collins wusste genau, wie sie sich zu verhalten hatte. Sie musste sich besonders um Mabel kümmern, um ihr diesen Anblick zu ersparen.
Der Lampenstrahl verschwand. Sekundenlang blieb ich in der nebligen Dunkelheit stehen und dachte daran, was mich wohl in der Kirche erwarten würde. Auf meinen Rücken hatte sich eine Gänsehaut gelegt, die einfach nicht verschwinden wollte. Um den Toten würde ich mich später kümmern.
Wichtig war zunächst die Kirche, und da war ich gespannt, was ich dort vorfinden würde.
Es war kein weiter Weg, aber ich betrat das Gotteshaus noch nicht sofort.
Wieder nahm ich meine Leuchte zu Hilfe und untersuchte die Umgebung des Eingangs.
Nein, hier fanden sich keine Spuren. Dafür sah ich, dass die Tür nicht geschlossen war. Ich konnte sie öffnen, was ich auch tat. Die Waffe zog ich nicht, doch in mir steckte eine fast greifbare Spannung, die auch nach dem nächsten Schritt nicht weichen wollte.
Ich tauchte in die Kirche ein, und augenblicklich umgab mich eine andere Atmosphäre. Es war ebenso still wie draußen. Nur empfand ich diese Stille anders. Beschreiben konnte ich sie nicht. Irgendwie kam sie mir andächtiger vor.
Es war klar, dass ich den Engel suchte. Zunächst allerdings glitt der Lampenstrahl in das Dunkel hinein und wurde durch keine Nebelschleier gestört.
Nicht sehr große Fenster. Bänke. Der Altar weiter vorn. Ein schmales Taufbecken. Es war alles normal, nur den Engel hatte ich bisher nicht gesehen.
Jane schob sich an mich heran. »Du musst dich nach links drehen, John, dann siehst du ihn.«
»Wo?«
»An der Wand neben der Tür.«
Jane war nicht allein gekommen, das sah ich in der Drehung. Aber jetzt dauerte es nur einen Atemzug lang, bis ich den Engel entdeckt hatte. Er hing tatsächlich an der Wand. Leicht nach vorn gebeugt, um den Betrachter, der zu ihm hochschaute, ansehen zu können.
Es gab ihn also.
Mabel Denning hatte nicht gelogen. Trotzdem entsprach er in seinem Aussehen nicht ihren Beschreibungen. Im Gegensatz zu dem toten Küster besaß der Engel noch seinen Kopf, obwohl Mabel es uns anders
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