1294 - Der kopflose Engel
abgeschlagen…
***
Die Angst, die Vorahnung, die kriechende Furcht, dieses schleichende Wissen, für all das erhielt sie jetzt die Bestätigung, denn der Engel hing kopflos in der Nische.
Es war auch keine Täuschung. Sie sah es genau, denn das Licht der beiden Kerzen log nicht. Es strahlte nach oben, und es hüllte dabei den Engel von zwei Seiten ein.
Ihr Mund war noch immer nicht geschlossen. Halb erstickte Laute drangen aus ihm hervor. Sie hätten auch von einem Tier stammen können. So etwas hatte Mabel noch nie bei sich gehört. Sie fühlte sich plötzlich wie an ein Mühlrad gebunden, das sich immer schneller drehte, wobei sie gleichzeitig auf schwankenden Schiffsplanken zu stehen glaubte.
In ihrem Kopf hämmerte es, die Knie wurden weich, und es wunderte sie, dass sie noch auf den eigenen Füßen stand.
Der Engel hatte seinen Kopf stets ein wenig schräg gehalten. Er war von dem unbekannten Künstler so geschaffen worden, dass er seinen Betrachter aus jeder Perspektive irgendwie anschaute. Sein Gesicht war so wichtig gewesen.
Mabel wusste nicht, ob der Künstler ein sehr frommer Mensch gewesen war. Möglicherweise nicht, denn er hatte dem Engel keine Flügel gegeben. Trotzdem kam niemand auf die Idee, in ihm etwas anderes zu sehen als einen Engel.
Mabel Denning stand noch immer stocksteif auf dem Fleck. Sie wusste nicht, was sie denken sollte.
Alles stürmte auf sie ein, ohne dass sie in der Lage war, etwas auseinander zu halten.
Sie wünschte sich weg, aber das klappte nicht. Mabel musste sich den Tatsachen stellen.
Angst kroch in ihr hoch. Sie merkte wieder den verdammten Druck in der Kehle. Zugleich schien ihr jemand eine Faust in den Magen gedrückt zu haben, und nur allmählich fand sie wieder zu sich selbst und zurück in die Wirklichkeit.
Der Schleier verschwand von ihren Augen. Die Sicht wurde wieder klar. Es ging ihr trotzdem nicht besser, aber sie traute sich wieder, einen Schritt nach vorn zu gehen.
Jetzt kam sich Mabel wie eine alte Frau vor, auf deren Rücken eine schwere Last lag. Sie hatte das Gefühl, bei jedem Schritt in die Erde einzusinken, aber die rostbraunen Fliesen weichten nicht auf.
Sie ging weiter und erreichte die unmittelbare Nähe der Figur und auch des abgeschlagenen Kopfes.
Warum sie die Kirche nicht schreiend verließ, wusste Mabel selbst nicht. Sie blieb stehen und richtete ihren Blick vor die Füße, denn dort lag der Kopf. Sie wollte ihn sich eigentlich nicht so genau anschauen, doch etwas schien sie zu zwingen, ausgerechnet nur dort hinzusehen und sich alles einzuprägen.
Der Blick traf das Gesicht - ihr Gesicht!
Ja, es gab keine Zweifel. Das war ihr Gesicht. Die gleichen weichen Züge, die etwas vorstehenden Wangen, leicht pausbäckig, würde man sagen. Der kleine Mund, den ihre Mutter immer als Kussmund angesehen hatte. Der Schnitt der Augen, das weiche Kinn, ein Teil des glatten Halses und das lockige Haar, das der Künstler wunderbar aus dem Holz herausgeschält hatte.
Sie schluckte. Sie räusperte sich. Sie hatte plötzlich den Eindruck, eine Blutlache zu sehen, die sich unter dem Kopf ausbreitete, doch das war reine Einbildung.
Endlich gelang es ihr, den Blick wieder zu heben. Sie konzentrierte sich auf den Restkörper und stellte fest, dass der Kopf von ihm mit einem glatten Schnitt abgetrennt worden war.
Nicht abgesägt, sondern abgeschlagen. Es lag auch kein Holzstaub am Boden.
Wer tat so etwas?
Mabel konnte sich hundert Mal die Frage stellen, sie würde keine Antwort bekommen, und sie merkte, dass wieder Furcht in ihr hochkroch.
Auch wusste sie, dass sie etwas tun musste. Aus der Kirche laufen, dem Küster Bescheid geben, damit der sich um die Dinge kümmerte. Aber würde er ihr glauben? Würde er nicht vielmehr denken, dass sie die Übeltäterin war? Er hatte sie vorhin schon so komisch angesehen, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.
Mabel atmete schwer. Sie wischte dabei über ihr Gesicht, und ihr Blick blieb trotzdem starr und ins Leere gerichtet. Jetzt sah sie den Engel nicht mehr. Sie entfernte sich innerlich von ihm, obwohl sie weiterhin an der gleichen Stelle stand.
Fahrig wischte sie über die Stirn. Weg mit dem kalten Schweiß, und auch mit der Haarsträhne, die sich gelöst hatte und unter dem Rand des Kopftuchs hervorschaute.
Auch weg aus der Kirche!
Doch wohin?
Wer würde ihr glauben? Nicht der Küster, obwohl sie den älteren Mann sehr mochte.
Mabel Denning war völlig durcheinander. In ihrem Innern herrschte das
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