1294 - Der kopflose Engel
große Chaos. So etwas hatte sie noch nie durchgemacht, aber sie kam trotzdem zu einem Ergebnis.
Noch ein letzter Blick auf den Kopf - und der Schock erwischte sie zum zweiten Mal.
Das Gesicht war dabei, sich zu verändern. Etwas schob sich über die normalen Züge hinweg. Es kroch wie ein Schatten aus dem Unsichtbaren heran, und jetzt sah sie, wem die Züge gehörten.
Ihrem Vater, Dr. Mason Denning!
***
Mabel war an einem Punkt angelangt, an dem sie überhaupt nichts mehr begriff. Sie blieb stumm und hörte sich trotzdem schreien. Irgendetwas tobte in ihrem Kopf. Sie glaubte schon, dass er zerspringen würde. Das passierte jedoch nicht, der Kopf hielt dem Druck stand, nur Mabel konnte nichts mehr begreifen. Sie war völlig fassungslos geworden. Hier lief etwas ab, das ihren Verstand bei weitem überstieg.
Sie schaute hin. Der innere Zwang war einfach zu groß, und so wurde ihr abermals bewusst, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
Auf dem Gesicht des Engels malte sich ein anderes ab, das ihres verstorbenen Vaters. Sie kannte seine Züge genau. Wie oft hatte sie als kleines Mädchen auf seinem Schoß gesessen und ihn betrachtet. Damals hatte er noch einen Bart besessen, das fiel hier flach. Seine Wangen sahen so glatt rasiert aus.
Warum? Warum war das passiert? Welche Macht steckte dahinter?
Der Mund des toten Vaters grinste sie an. Er war so stark wie möglich in die Breite gezogen, aber seine Zähne waren dabei nicht zu sehen. Mabel kam dieses Grinsen tückisch und wissend zugleich vor. So hatte er sie eigentlich nie angegrinst, das geschah nur jetzt. Da war er zu einem regelrechten Teufel geworden, der erschienen war, um sie in die Hölle zu zerren.
Mabel Denning wusste nicht, wie lange sie auf dem Fleck gestanden hatte. Sie starrte nur nach unten, doch sie wollte das Gesicht nicht mehr sehen. Es widerte sie an, aber als sie erneut einen Blick auf den Kopf warf, da musste sie erkennen, dass sich das Gesicht ihres Vaters wieder zurückgezogen hatte.
Jetzt lag der Kopf so vor ihr wie sie ihn kannte. Allerdings mit ihrem Gesicht.
Das war einfach zu verrückt. Darüber wollte sie auch nicht länger nachdenken. Die Kirche war für sie zu einem Hort des Schreckens geworden, den sie so schnell wie möglich verlassen wollte.
Diesmal setzte sie ihre Gedanken in die Tat um. Es hielt sie nichts auf. Auf dem Absatz fuhr sie herum, und plötzlich konnte sie schreien. Mabel brüllte bei ihrem taumelnden Laufen all ihren Frust heraus. Die Schreie brachen sich an den kahlen Wänden und wurden zu Echos, die in ihren Ohren tosten.
Es war für sie eine Flucht aus der Hölle. Sie war so durcheinander, dass sie gegen die verschlossene Kirchentür lief, sich heftig an der Stirn stieß und die Tür dann aufriss.
Es kam ihr auch nicht in den Sinn, dem Küster Bescheid zu geben. Sie wollte nur weg, und der Mann wusste auch nicht viel von ihr. Selbst ihren Namen hatte sie ihm nicht gesagt.
Mabel sah das Licht hinter den Fenstern des Küsterhauses nur verschwommen. Sie lief mit hastigen, raumgreifenden Schritten daran vorbei, weil sie so schnell wie möglich ihren Wagen erreichen wollte. Es war ein kleiner Fiat, den sie erst vor einem halben Jahr gekauft hatte. Sie pflegte ihn vom Haus des Küsters entfernt in der Nähe einer Friedhofsmauer zu parken. Das letzte Stück des Wegs wollte sie immer zu Fuß gehen, um sich gedanklich auf den Engel einzustellen.
Der Fiat stand an der Mauer. Einige Blätter waren auf sein Dach gefallen und hatten auch die Haube nicht verschont. Drei Blätter klebten an der Frontscheibe.
Mabel schloss den Wagen auf und ließ sich hineinfallen. Ein tiefer Atemzug löste sich aus ihrem Mund. Es war mehr ein Stöhnen. Für einen Augenblick fühlte sie sich wie eine Fremde. Wie in einem Gefängnis. Zwar wusste sie genau, was sie zu tun hatte, um das Auto zu starten, doch nicht mal den Schlüssel holte sie aus der Tasche.
Jetzt schossen ihr andere Gedanken durch den Kopf. Mit wem konnte sie über das schreckliche Erlebnis sprechen? Wer würde ihr überhaupt Glauben schenken?
Mabel wusste es nicht. Sie schlug die Hände vors Gesicht, doch die Gedanken gingen ihr einfach nicht aus dem Kopf. Es musste eine Lösung geben, es musste!
Ja, es gab sie auch!
Sie fiel ihr ein, als die Hände langsam nach unten sanken. Und es fiel ihr ein, dass sie noch ihre Hände besaß. Eine Frau würde ihr Glauben schenken.
Im Handschuhfach lag das kleine Notizbuch mit dem roten Ledereinband. Dort hatte Mabel alle
Weitere Kostenlose Bücher