1297 - Das Blutsee-Quartett
ihn nicht alles täuschte, hatte sie es erreicht.
Das Ziel bin ich!, dachte er.
Sekunden hatten seine Überlegungen gedauert. Er hatte sich dadurch ablenken lassen, doch jetzt konzentrierte er sich auf das Fenster. Das Licht der Öllampe reichte zwar bis fast an die Scheibe heran, aber es spiegelte sich auch darin, und so war das Gesicht der Frau nicht genau zu erkennen. Es verzerrte sich leicht und wirkte wie aus dem Kintopp hervorgeholt.
In jeder anderen Situation wäre Cotta ans Fenster getreten, um die Frau einzulassen. Hier tat er es nicht. Er dachte an sein Erlebnis am Blutsee. Das war zwar mit dieser Entdeckung nicht zu vergleichen, aber er traute dem Frieden nicht. Das Hochklettern der Blonden hatte schon etwas zu bedeuten, und sie wollte auch was von ihm. Aber warum hatte sie nicht den normalen Weg genommen?
Mit den Füßen musste die Unbekannte irgendwo unterhalb des Fensters einen festen Stand bekommen haben, denn von irgendeiner Anstrengung zeichnete sich nichts in deren Gesicht ab. Es blieb glatt, ohne Emotionen, das sah er selbst aus dieser Entfernung.
Sie lächelte auch nicht und traf überhaupt keine Anstalten, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Das wunderte ihn noch mehr. Wenn sie schon in die Höhe geklettert war und diese Mühe auf sich genommen hatte, warum, zum Henker, verhielt sie sich dann so?
Cotta wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Es war zu viel auf einmal auf ihn zugekommen, und er stöhnte jetzt leise auf, als sich seine Gedanken noch intensiver mit dem Erscheinen dieser Person beschäftigten.
Warum kam sie denn nicht? Warum gab sie ihm kein Zeichen, das Fenster zu öffnen? Oder hatte sie nicht zu ihm gewollt, sondern zu einem der Mönche?
Jetzt bewegte sich die Frau!
Paolo schrak zusammen, denn bisher hatte sie steif wie ein Brett vor der Scheibe gehangen. Nun hob sie einen Arm und klopfte dann mit dem Finger gegen die Scheibe, als wollte sie ihm eine bestimmte Nachricht übermitteln. Zwei Mal hörte er das dumpfe Geräusch, und beide Male zuckte er wie unter einem Hieb zusammen.
Ansonsten stand er auf der Stelle wie angeleimt. Das war Cotta noch nie passiert. Er hatte das Gefühl, dass es am besten für ihn war, wenn er nichts tat und erst mal abwartete.
Sie wollte was von ihm, und sie würde sich auch durchsetzen. Ein wenig tröstlich war, dass sie keine Ähnlichkeit mit einer Person aus dem Blutsee hatte. Doch eine Antwort auf weitere Fragen war das leider auch nicht.
Sie hob wieder den Arm.
Paolo Cotta rechnete mit einem erneuten Klopfen. Es war ein Irrtum. Den bekam er in den folgenden Sekunden drastisch vor Augen geführt, denn der Schlag gegen das Fenster war so hart gewesen, dass die Scheibe zu Bruch ging. Sie verwandelte sich in ein Puzzle aus mehr oder minder großen Glasstücken, die in die Zelle hineinflogen und über den glatten Boden rutschten.
Paolo Cotta hörte das helle scharfe Lachen der Frau, und dann kletterte sie selbst in die Zelle…
***
Wir hatten eine nicht eben einfache Fahrt hinter uns, denn die hereinbrechende Dunkelheit hatte die Strecke in den Bergen noch schwieriger werden lassen. Die Straße, falls man überhaupt davon sprechen konnte, war an einigen Stellen so eng, dass Suko schon alle Fahrkünste aufwenden musste, um nicht über den Fels zu schrammen.
Trotzdem gab er sich gelassen und pfiff irgendeinen Song von Shakira vor sich hin. Er hatte ihn bei Shao aufgeschnappt, die für den Popstar schwärmte.
»Klappt doch«, sagte er, als er in die letzte Kurve hineinfuhr und sie ebenfalls hinter sich brachte. »Keine Panik und auch keine Probleme mehr.«
»Super.«
Ich schaute mir das Kloster an und hatte wirklich den Eindruck, in der immer weiter fortschreitenden Dämmerung ein mächtiges Schattengemälde vor mir zu sehen.
Was Klöster anging, so kannten wir uns aus. Die meisten, die wir gesehen hatten, lagen nicht in einer so bergigen Umgebung. Bei den anderen war noch ein großes Grundstück vorhanden, zumeist versteckt hinter hohen Außenmauern. Auf dem Grundstück wurde oft Landwirtschaft betrieben, oder es wurden handwerkliche Arbeiten durchgeführt. Es gab bei diesen Klöstern auch Verkaufsstellen für die dort hergestellten Produkte. Aber das alles traf hier nicht zu.
Dieser Bau ragte vor unseren Augen hoch wie eine mächtige Trutzburg, die niemand einnehmen konnte. Wer hier lebte, wollte mit der Außenwelt nichts zu tun haben.
Trotzdem waren die Mönche in der Lage, Besucher zu empfangen, und zu ihnen gehörte auch ein
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