1297 - Das Blutsee-Quartett
Hinschauen entdeckte er den Kirchturm, weil Scheinwerfer ihn von zwei Seiten her anstrahlten.
Den genauen Weg bis zum Ziel kannte er nicht. So entschloss er sich, zunächst dorthin zu fahren, wo er schon mit seinem Freund John Sinclair gewesen war. Den Weg zur Piazza kannte er. Der Fiat rollte weiter in die dunkle Nacht hinein, wobei das Fernlicht seine Ankunft preisgab. In den folgenden Sekunden war Suko froh, es eingeschaltet zu haben, denn es strahlte auf den kleinen Platz, der nicht leer war. Er hatte sich auch äußerlich nicht verändert, und trotzdem musste dort etwas geschehen sein. Nicht grundlos standen die Menschen dort herum.
Suko hielt an.
Als er sich losschnallte, bemerkte er den leichten Druck in der Magengegend. Sein Gefühl sagte ihm, dass etwas nicht stimmte. Die Menschen verhielten sich seltsam. Sie hatten sich bestimmt nicht versammelt, um ein Fest zu feiern. So wie sie sich verhielten, glich es schon mehr einer Trauerfeier.
Er hörte auch keine Stimmen, als er die Autotür öffnete und ausstieg. Über seinen Rücken rann ein Schauer, und er ging davon aus, dass Bova unangenehmen Besuch bekommen hatte. Jetzt war er sich sogar sicher, einem guten Plan gefolgt zu sein.
Nichts deutete bei den Bewohnern darauf hin, dass sie ihn bemerkt hatten. Es konnte auch sein, dass sie es nicht wollten, weil sie mit sich selbst beschäftigt waren.
Suko ging auf die Gruppe zu. Er holte dabei seine Dämonenpeitsche hervor, schlug einmal den Kreis, ließ die Riemen außen und steckte die Peitsche zurück in seinen Gürtel, aber so, dass sie nicht auf den ersten Blick entdeckt werden konnte.
Nicht nur die Gruppe behielt er im Auge. Er blickte sich auch so gut wie möglich in der Umgebung um.
Da gab es genügend Deckungen, Schutz und Finsternis, aber nichts war zu sehen, was ihn gestört hätte. Es lauerte niemand in den finsteren Ecken, er vernahm keine fremden Geräusche und musste auch nicht mit einem Angriff rechnen.
Er kam der Gruppe näher. Männer und Frauen umstanden etwas, das Suko nicht sehen konnte. Er hörte die Stimmen. Es gab keinen, der laut sprach. Wenn die Menschen redeten, dann sehr gedämpft, und ihre Angst war für Suko fast körperlich spürbar.
Schließlich, er stand bereits in der Nähe, vernahm er eine Stimme, die alle anderen übertönte. Ein Mann sprach. Seine Worte hörten sich irgendwie brüchig an, und er schien Mühe zu haben, überhaupt etwas über die Lippen zu bringen.
Suko trat etwas zur Seite. So konnte er durch eine Lücke schauen und auch den Sprecher sehen.
Die Piazza war einer der hellsten Orte in Bova. Und so sah Suko den Sprecher auch. Es war genau der Mann, zu dem er gewollt hatte. Eine hagere Gestalt, ein sehr alter Mensch schon, dessen Gesicht im kalten Licht wie eine Totenmaske wirkte.
Das musste Pfarrer Sella sein.
Suko blieb kein Zuschauer mehr. Er ging jetzt schneller, um an den Pfarrer heranzukommen, der die Schritte des Fremden hörte und sich aufrichtete. Auch die anderen Bewohner hatten Suko wahrgenommen. Sie starrten ihn an wie einen Geist, und er sah, dass ihre Blicke nicht eben freundlich waren.
»Monsignore Sella?«, fragte Suko.
Der alte Mann nickte in seine Richtung. »Ich bin Luciano Sella.«
»Und ich bin derjenige, von dem Bruder Anselmo gesprochen hat. Ich komme soeben aus dem Kloster.«
»Ja, ich weiß.«
»Er bringt Unheil!«, hörte Suko eine Stimme aus dem Hintergrund. »Ihm haben wir das zu verdanken.«
»Nein!«, rief Sella. »Er hat damit nichts zu tun. Im Gegenteil, er bekämpft es. Dieser Mann ist ein Freund von Bruder Anselmo.«
»Bisher hatten wir Ruhe, und jetzt…«
»Es ist das Schicksal, und es hat nichts mit uns Menschen zu tun, denn es liegt in den Händen eines anderen.«
Die Worte des alten Pfarrers schienen die Menschen einigermaßen beruhigt zu haben. Sie sagten nichts mehr. Auch ihre Blicke trafen Suko nicht mehr so offen feindselig.
Suko wollte endlich wissen, was in diesem Ort vorgefallen war. Niemand hinderte ihn mehr daran, noch näher zu treten. Man schuf ihm sogar eine Gasse. Er ging langsamer, als er etwas Dunkles sah, das auf dem Boden lag. Suko brauchte nicht zwei Mal hinzuschauen, um zu erkennen, dass es sich dabei um einen Menschen handelte.
Um einen Toten…
Neben ihm blieb Suko stehen. Er schaute jetzt den alten Pfarrer direkt an, der über seine Soutane einen dunklen Mantel gestreift hatte. Das faltige Gesicht des alten Mannes zuckte. Die Augen aber blickten hell und klar.
Niemand sprach mehr.
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