13 kleine Friesenmorde
der fremden Metropole.
Jan Toenjes, der 34-jährige Koch aus Nessmersiel, blickte überrascht auf die unbenutzte Teetasse.
»He, Jungs, was ist mit Pitt? Pennt er noch?«, fragte er.
Die Gespräche erstarben.
»Seine Koje war leer«, antwortete der Matrose Menke Diekster und erhob sich. »Der muss immer noch einenMordshunger haben, nach seinen Streifzügen durch Rio. Ich schaue mal nach.«
Er verließ die Messe, um nach Pitt Luttmann Ausschau zu halten. Minuten später kam er aufgeregt zurück. »Er ist weg! Nirgendwo zu finden«, sagte er.
Die Männer beendeten das Frühstück. »Ich halte den Tee warm. Er wird doch nicht . . . «, bemerkte der Koch besorgt.
»Halt deine Klappe! Du hättest uns mit deinem Fraß fast alle auf den Pott verdammt«, sagte ein Matrose spaßig.
Er und der Kapitän hatten sich nach dem Ablegen in Rio de Janeiro in Folge der Hitze unwohl gefühlt, über Appetitlosigkeit und Verstopfung geklagt. Doch das hatte sich behoben.
Der Kapitän und auch er fühlten sich wieder gesund und wohl.
Der Abort befand sich hinten auf dem Schiff. Kapitän Folkmar Betten hatte der Mannschaft den strengen Befehl erteilt, ihre Bedürfnisse nur dort zu verrichten, und es verboten, ihre Notdurft vom Bug aus zu verrichten.
Die Mannschaft schwärmte aus, durchsuchte das Schiff nach Pitt Luttmann. Die Männer betraten selbst die Ladeluken und riefen nach ihm. Ergebnislos. Sie fanden vor der Back seinen abgelegten Leibriemen und schlossen daraus folgerichtig, dass sich der Matrose Pitt gegen die Anordnung des Kapitäns in der Bugspitze entleert hatte und dabei über Bord gegangen war.
Kapitän Betten griff unverzüglich ein. Er gab die entsprechenden Segelkommandos. Der Steuermann nahm Kurs. Die Santana folgte dem Ruder, beschrieb einen Bogen und segelte in entgegengesetzter Richtung durch die spiegelklare See, ohne den Verunglückten zuentdecken. Sie vernahmen keine Hilferufe. Zur Bestätigung ihrer schrecklichen Vermutungen trieb auf den leichten Wellen aufgeweichtes, gekräuseltes Zeitungspapier. Ihr Fazit: Pitt Luttmann hatte seinen Tod selbst zu verantworten. Es gab an Bord keine Zeugen, denen er auf dem Weg zum Bug begegnet war.
Kapitän Folkmar Betten machte eine diesbezügliche Eintragung in das Logbuch. In Begleitung des Steuermannes räumte er die Habseligkeiten des jungen, tüchtigen Seemannes in den Seesack, ohne seine Intimsphäre mit Schnüffeleien zu verletzen. Ein trauriger Vorfall. Um die Hinterbliebenen kümmerte sich die Reederei.
Bei der Ankunft in Pernambuco suchte der Kapitän mit seinem Steuermann das Konsulat auf, gab den Vorfall zu Protokoll und bat um eine dienstliche Stellungnahme mit entsprechenden Besuchen an Bord der Santana. Die Seefahrtsbehörde verzichtete auf eine Befragung seiner Mannschaft, da es keine Zeugen gab und das treibende Papier an der Unglücksstelle den Vorfall in jeder Weise logisch erscheinen ließ.
Auch das zuständige Seeamt in Brake erhob keine Vorwürfe gegen den Kapitän, der seit mehr als zwanzig Jahren seine Schiffe und Mannschaften mit Können, Weit-, Um- und Vorsicht, oft auch mit Fortune, erfolgreich geführt hatte und dem nie eine Mitschuld am Tode eines Fahrensmannes zur Last gelegt werden konnte.
Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass sich der Koch Jan Toenjes am frühen Morgen, und das an einem Sonntag, der auch an Bord der Schiffe geheiligt wurde, bei den Vorbereitungen des Frühstücks an einen leisen Ruf erinnerte. Er hatte geglaubt, dass er vom Steuermann kam.
Die Santana setzte ihre Reisen unter der bewährten Führung von Kapitän Folkmar Betten nach Südamerika und in die Karibik fort. Für die Statistik fiel der Tod des Matrosen Pitt Luttmann nicht sonderlich ins Gewicht, für seine Eltern, seine Geschwister und seine Geliebte hinterließ er eine Menge Leid, erst recht, als der Seesack vom Postboten angeliefert wurde.
1902 ging Kapitän Betten nach einem erfolgreichen und abenteuerlichen Seemannsleben von Bord der Santana. Im selben Jahr verstarb seine liebe Frau Antje. Er verkaufte das Kapitänshaus in Neuharlingersiel, zog zu seiner Tochter Minna nach Norderney und half mit dem Verkaufserlös ihr und dem Schwiegersohn beim Ausbau des Logierhauses »Patria«, am Damenpfad gelegen, in dem die preußischen Minister oft verweilten.
Die hohen Herren aus Berlin fanden Gefallen an seinen Berichten aus seiner Fahrenszeit. Das Haus »Patria« gehörte schon bald zur ersten Adresse im aufstrebenden Nordseebad Norderney.
Folkmar
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