13 - Wo kein Zeuge ist
heißt, Sie glauben, es gibt MABIL und dass Minshall diesen Jungen und die anderen nicht selbst umgebracht hat?«
Wie Havers sah auch Lynley zu der Tür des Verhörraums. »Ich halte das für sehr wahrscheinlich«, antwortete er. »Und ein Teil dessen, was er sagt, ergibt durchaus einen Sinn, Barbara.«
»Welcher Teil soll das sein?«
»Der Teil, der erklärt, warum wir jetzt einen toten Jungen ohne jede Verbindung zu Colossus haben.«
Wie üblich konnte sie seinem Gedankengang mühelos folgen und zog ihre Schlüsse daraus: »Weil der Mörder ein neues Revier brauchte, nachdem wir in Elephant and Castle bei Colossus aufgekreuzt waren?«
»Nach allem, was wir wissen, ist er kein Dummkopf«, sagte Lynley. »Sobald wir bei Colossus erschienen sind, musste er eine neue Quelle für seine Opfer auftun. Und MABIL ist für seine Bedürfnisse perfekt geeignet, Havers, denn niemand dort würde ihn auch nur verdächtigen, ganz gewiss nicht Minshall, der nur darauf wartet, ihn unter seine Fittiche zu nehmen. Und er ist willig und bereit, ihm die Opfer auszuliefern, weil er anscheinend fest daran glaubt - oder zumindest redet er sich das ein -, dass dieses verdammte Projekt eine hehre Sache ist.«
»Wir brauchen eine Beschreibung von zwei-zwei-eins-sechs-null«, erwiderte Havers und wies auf die Tür.
»Und mehr als das«, sagte Lynley, als die Tür sich öffnete und James Barty sie aufforderte, wieder hereinzukommen.
Minshall hatte das Wasser ausgetrunken und sich an die Zerlegung des Plastikbechers gemacht. Er sagte, er wolle einiges klarstellen. Lynley erwiderte, sie seien bereit, sich alles anzuhören, was er vorzubringen habe, und er schaltete den Kassettenrekorder wieder ein. Havers setzte sich hin und zog dabei geräuschvoll den Stuhl übers Linoleum.
»Mein erstes Mal war mit meinem Kinderarzt«, begann Minshall leise. Er hatte den Kopf gesenkt, den Blick auf die Hände gerichtet - soweit sich das trotz der Sonnenbrille feststellen ließ -, und war immer noch damit beschäftigt, den Plastikbecher zu zerlegen. »Er nannte es eine Behandlung« meiner Symptome. Ich war ein Kind, also woher sollte ich es wissen? Er fummelte zwischen meinen Beinen herum, um sicherzugehen, dass meine ›Symptome‹ in der Zukunft nicht zu sexuellen Problemen führten, wie Impotenz oder vorzeitiger Ejakulation. Schließlich hat er mich vergewaltigt, in seiner Praxis, aber ich hab nichts verraten. Ich hatte Angst.« Minshall schaute auf. »Ich wollte nicht, dass das erste Mal für andere Jungen auch so verläuft. Verstehen Sie? Ich wollte, dass es sich aus einer liebe- und vertrauensvollen Beziehung entwickelt, sodass sie bereit dafür waren, wenn es passierte. Sie sollten es selbst wollen. Sie sollten verstehen, was vorging und was es bedeutet. Ich wollte, dass es eine positive Erfahrung für sie ist, darum habe ich sie vorbereitet.«
»Wie?« Lynley hielt seine Stimme ruhig und sachlich, doch in Wahrheit war ihm zum Heulen zumute. Wie einfallsreich sie wurden, wenn sie sich rechtfertigen mussten, dachte er. Pädophile lebten getrennt vom Rest der Menschheit in einem Paralleluniversum, und man konnte praktisch nichts tun, um sie da herauszusprengen, so unverrückbar waren sie dort durch die Jahre der Selbsttäuschung verankert.
»Durch Offenheit«, antwortete Barry Minshall. »Durch Ehrlichkeit.«
Lynley spürte, dass Havers sich nur mühsam beherrschte. Er sah, wie verkrampft ihre Finger den Stift hielten, während sie sich Notizen machte.
»Ich habe mit ihnen über ihre sexuellen Triebe gesprochen. Ich ermöglichte ihnen, zu erkennen, dass das, was sie fühlen, natürlich ist, nichts, was man verbergen oder wofür man sich schämen muss. Ich erklärte ihnen, was man allen Kindern klar machen muss: Dass Sexualität in all ihren Manifestationen etwas Gottgegebenes ist, etwas, das man zelebrieren und nicht verstecken sollte. Wussten Sie, dass es Naturvölker gibt, bei denen Kinder einen sexuellen Initiationsritus durchlaufen, in dem ein Erwachsener, dem sie vertrauen, sie führt? Das ist Teil ihrer Kultur, und wenn es uns jemals gelingt, die Ketten unserer viktorianischen Vergangenheit zu sprengen, wird es auch Teil unserer Kultur werden.«
»Und das ist das Ziel von MABIL, ja?«, fragte Havers.
Minshall antwortete ihr nicht direkt. »Wenn sie mich in meiner Wohnung besuchen, bringe ich ihnen das Zaubern bei, bilde sie zu meinen Assistenten aus. Das dauert einige Wochen. Wenn sie bereit sind, treten wir vor einem Publikum auf, das
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