13 - Wo kein Zeuge ist
genehmigt uns nicht mehr Leute, und die, die wir haben, arbeiten bereits vierzehn bis achtzehn Stunden am Tag.« Lynley zeigte auf seinen gelben Block. »SO7 hat einen Abgleich zwischen allen Substanzen, die in Minshalls Van zu finden waren, und dem Gummirückstand, der an Kimmo Thornes Fahrrad gefunden wurde, gemacht. Keine Übereinstimmung. Minshall hat alten Teppichboden in seinem Wagen, keine Gummimatten. Aber Davey Bentons Fingerabdrücke sind überall in dem Fahrzeug. Und ungefähr zwanzig weitere.«
»Die anderen toten Jungen?«
»Wir führen gerade den Abgleich durch.«
»Aber Sie glauben nicht, dass sie es sind, oder?«
»Die Fingerabdrücke der anderen Jungen in Minshalls Wagen?« Lynley setzte die Lesebrille wieder auf und sah auf seine Notizen hinab, ehe er antwortete. »Nein. Das glaube ich nicht«, sagte er schließlich. »Ich denke, dass Minshall die Wahrheit sagt, so sehr ich es auch hasse, ihm zu glauben, bedenkt man seine Perversionen.«
»Und das heißt ...«
»Der Mörder hat von Colossus zu MABIL gewechselt, nachdem wir in Elephant and Castle aufgekreuzt sind und unsere Fragen gestellt haben. Und jetzt, da wir Minshall in Untersuchungshaft haben, wird er sich eine neue Bezugsquelle für seine Opfer suchen müssen. Wir müssen ihn schnappen, bevor er wieder zuschlägt, denn Gott allein weiß, wo das sein wird, und wir können nicht jeden Jungen in London schützen.«
»Also brauchen wir die Termine, zu denen sich diese MABIL-Typen treffen. Und wir müssen die Alibis aller Teilnehmer überprüfen.«
»Das heißt, zurück zum ... vielleicht nicht gerade zum Start, aber ziemlich weit zurück zum Anfang«, pflichtete Lynley bei. »Sie haben Recht, Winston. Es muss erledigt werden.«
Ulrike blieb nichts anderes übrig, als öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Der Weg von Elephant and Castle zur Brick Lane war weit, und sie konnte die Zeit nicht erübrigen, die die Fahrt hin und zurück mit dem Rad gedauert hätte. Es war so schon verdächtig genug, dass sie Colossus verließ, ohne dass ein Termin in ihrem Planer oder in dem Kalender stand, den Jack Veness an der Rezeption führte. Also hatte sie einen Anruf auf dem Handy erfunden - Patrick Bensley, der Präsident der Stiftung, wollte, dass sie sich mit ihm und einem potenziellen finanzstarken Sponsor treffe - und darum müsse sie fort. Jack könne sie auf dem Handy erreichen. Sie werde es wie immer eingeschaltet lassen.
Jack Veness hatte sie betrachtet, und ein kleines Lächeln zerteilte seinen spärlichen Bart. Er nickte wissend. Sie gab ihm keine Gelegenheit, eine Bemerkung zu machen. Es war wieder einmal nötig, ihn in die Schranken zu weisen, aber sie hatte jetzt keine Zeit, mit ihm über sein Verhalten und dessen notwendige Veränderung zu sprechen, sollte er innerhalb der Organisation je aufsteigen wollen. Vielmehr nahm sie Mantel, Schal und Mütze und ging hinaus.
Die Kälte draußen war ein Schock, den sie zuerst in den Augäpfeln spürte, dann in den Knochen. Es war eine typische Londoner Kälte: angereichert mit Feuchtigkeit, sodass das Atmen zur Anstrengung wurde. Diese Kälte trieb Ulrike an, sich so schnell wie möglich in die stickige Wärme der U-Bahn zu flüchten. Dort stieg sie in einen Zug Richtung Embankment und versuchte, sich von einer Frau fern zu halten, die röchelnd hustete.
Am Embankment stieg Ulrike aus und drängelte sich durch die Scharen von Pendlern. Ihr fiel auf, dass das Publikum sich veränderte. Die mehrheitlich schwarzen Fahrgäste wichen besser gekleideten Weißen, als sie zum Bahnsteig der District Line ging, deren Haltestellen einige Bastionen der Londoner Kapitalbonzen bedienten. Auf dem Weg warf sie eine Pfundmünze in den offenen Gitarrenkasten eines Musikanten. Er sang schmachtend »A Man Needs a Mate« und klang dabei weniger wie Neil Young, sondern eher wie Cliff Richard mit Polypen. Aber wenigstens tat er irgendetwas, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Im Bahnhof Aldgate East erstand sie eine Ausgabe der Obdachlosenzeitung - die dritte in zwei Tagen. Sie rundete den Preis um fünfzig Pence auf. Der Mann, der sie verkaufte, sah so aus, als hätte er es nötig.
Sie fand die Hopetown Street, nachdem sie die Brick Lane wenige Schritte entlanggegangen war, bog ein und kam zu Griffins Haus. Es lag am hinteren Ende der Siedlung, jenseits einer Rasenfläche und vielleicht dreißig Meter vom Gemeindezentrum entfernt, wo eine Kinderschar, begleitet von einem verstimmten Klavier, sang.
Ulrike
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