13 - Wo kein Zeuge ist
brauchte drei Anläufe, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen, und als es schließlich gelungen war, war ihm schwindelig. Er rechnete damit, dass das Haus irgendwie anders sein würde, aber nichts hatte sich verändert. Der letzte Blumenstrauß, den sie arrangiert hatte, hatte ein paar Blütenblätter verloren, die nun auf dem Intarsientischchen in der Eingangshalle verstreut lagen, aber das war alles. Der Rest war so, wie er ihn zuletzt gesehen hatte: Einer ihrer Winterschals hing über dem Treppengeländer, eine aufgeschlagene Illustrierte lag auf einem der Sofas im Salon, ihr Stuhl im Speisezimmer stand ein Stück vom Tisch entfernt, war nicht zurückgeschoben worden, nachdem sie zuletzt darauf gesessen hatte, eine Teetasse im Spülbecken in der Küche, ein Löffel auf der Arbeitsplatte, ein Ordner mit Stoffmustern für das Kinderzimmer auf dem Tisch. Irgendwo im Haus waren vermutlich die Tüten mit den Taufkleidern verstaut. Gnädigerweise wusste er nicht, wo.
Oben stellte er sich unter die Dusche und ließ das Wasser endlos lang auf sich niederprasseln. Er stellte fest, dass er es nicht richtig spüren konnte, und selbst als es auf die Augäpfel fiel, blinzelte er nicht und fühlte keinen Schmerz. Stattdessen durchlebte er in seiner Erinnerung einzelne Momente und flehte einen Gott, an den er nicht glauben konnte, an, ihm eine Chance zu geben und die Zeit zurückzudrehen.
Zu welchem Tag?, fragte er sich. Zu welchem Moment? Zu welcher Entscheidung, die sie alle dorthin geführt hatte, wo sie nun waren?
Er blieb unter der Dusche, bis kein heißes Wasser mehr im Boiler war. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort gestanden hatte, als er endlich heraustrat. Tropfend und fröstelnd blieb er stehen, trocknete sich nicht ab und zog sich nicht an, bis seine Zähne wie Kastagnetten klapperten. Er brachte es nicht fertig, in das Schlafzimmer zu gehen und dort Kleiderschrank und Schubladen zu öffnen, um frische Kleidungsstücke zusammenzusuchen. Er war fast trocken, als er endlich die Willenskraft fand, nach einem Handtuch zu greifen.
Er ging ins Schlafzimmer. Lächerlicherweise waren sie vollkommen hilflos, wenn Denton nicht da war, um sie zu bemuttern. Darum war das Bett unfachmännisch gemacht, und so war der Abdruck ihres Kopfes auf dem Kissen noch zu sehen. Er wandte den Blick ab und zwang sich, zur Kommode hinüberzugehen. Ihr Hochzeitsbild starrte ihn an. Warme Junisonne, der Duft von Tuberosen, der Klang von Violinen, die Schubert spielten. Er hob die Hand und stieß den Rahmen um, sodass er mit dem Bild nach unten umfiel. Im ersten Moment verspürte er eine Art Erleichterung, als ihr Bild verschwunden war, dann setzte der Schmerz ein, weil er sie nicht mehr sehen konnte, und er stellte das Bild wieder auf.
Er zog sich an. Er tat es mit dem gleichen Maß an Sorgfalt, das sie auf diese Prozedur verwandt hätte. Das erlaubte ihm, über Farben und Stoffe nachzudenken, Schuhe und eine geeignete Krawatte auszuwählen, als sei dies ein ganz normaler Tag und sie noch im Bett mit einer Tasse Tee auf dem Bauch, während sie mit Argusaugen darauf achtete, dass er keinen bekleidungstechnischen Fauxpas beging. Es waren immer seine Krawatten. Von jeher. Tommy, Liebling, bist du dir absolut sicher, was diese blaue angeht?
Es gab wenige Dinge, derer er sich sicher war. Im Grunde war er sich nur einer Sache sicher, nämlich, dass es nichts gab, dessen er sich sicher war. Seine Motorik funktionierte, ohne dass er es richtig zur Kenntnis nahm, und so fand er sich schließlich vollständig angezogen, starrte in die Spiegeltür des Kleiderschranks und fragte sich, was er als Nächstes tun sollte.
Rasieren, aber er konnte nicht. Zu duschen war schwierig genug gewesen, trug diese Aktivität doch das Etikett: »Die erste Dusche nach Helen«, und mehr konnte er nicht tun. Mehr Etiketten dieser Art konnte er nicht verkraften, wusste er doch, dass ihr Gewicht ihn letztlich umbringen würde. Die erste Mahlzeit nach Helen, die erste Tankfüllung nach Helen, die erste Post im Briefschlitz, das erste Glas Wasser, die erste Tasse Tee. Die Liste war endlos und drohte bereits, ihn unter sich zu begraben.
Er verließ das Haus. Draußen sah er, dass irgendjemand - wahrscheinlich einer der Nachbarn - einen Blumenstrauß auf die Eingangsstufen gelegt hatte. Narzissen. Es war die passende Jahreszeit. Der Winter wich dem Frühling, und Lynley hatte das Gefühl, er müsse unbedingt die Zeit anhalten.
Er hob die Blumen auf. Sie mochte
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