1306 - Hexenbalg
praktisch wie eine verzweifelte Verwünschung.
»Ein Mensch hat sich das Recht genommen, einen anderen Menschen zu töten. Er hat damit ein für uns alle unfassbares Verbrechen begangen, und die Tragik ist, dass dieser Mensch noch frei herumläuft. Wir wissen nicht, wer diese ruchlose Tat begangen hat, aber einer weiß es, und der wird es nicht vergessen. Es ist der Herrgott. Auch wenn wir Menschen es nicht herausfinden können, einer aber wird Gerechtigkeit walten lassen, und so können wir heute nur auf einen gerechten Gott hoffen und für den Verblichenen letzte Gebete sprechen. So lasset uns beten, wie es uns der Vater selbst gelehrt hat.« Es folgte eine kurze Pause. Die Menschen bekamen Zeit, ihre Hände zu falten, wie es auch der Pfarrer tat, der dann mit seinem Gebet begann. »Vater unser, der du bist im Himmel…«
Die Menschen murmelten die Worte mit, während ich die Zeit nutzte, um mich noch mal umzuschauen. Ich ging davon aus, dass der Täter die Worte nicht sprach. Es konnte sein, dass er mir deshalb auffiel.
Lücken gab es nur wenige. Ich wollte die betenden Menschen auch nicht stören und bewegte mich deshalb kaum vom Fleck. Da die Leute die Köpfe gesenkt hielten, bekam ich die Chance, wieder mehr zu sehen als an meinem ersten Platz.
Männer, Frauen, nur wenige Kinder hielten sich auf dem Friedhof auf, der mit zahlreichen Gräbern geschmückt war. Das stimmte auch, denn die Gräber hier sahen alle sehr gepflegt aus. Das war trotz der Schneekuppen zu sehen, die auf den Grabsteinen lagen und manche Gräber als schmales Leichentuch bedeckten.
Ich sah den Mann am gegenüberliegenden Ende. Er stand praktisch diagonal zu mir. Auch er trug einen Hut, doch diese Kopfbedeckung fiel schon aus der Reihe. Sie passte nicht zu all den Trachtenhüten oder den eleganten, die auf den Köpfen der meisten Männer und Frauen saßen. Der Hut fiel einfach auf. Nicht nur wegen seiner dunklen Farbe, auch aufgrund der Form, denn er besaß eine recht breite Krempe, die sich der Träger nach seinem Geschmack zurechtgebogen hatte.
In der klaren Luft war alles gut zu erkennen. Aus dem Hintergrund hörte ich das Signal eines Zuges. Ein schriller Pfiff störte die Zeremonie. Keiner achtete darauf. Auch ich nahm ihn nur wie nebenbei wahr. Ich schaute auf die Gestalt mit dem dunklen Hut.
Leider war das Gesicht nicht zu erkennen, denn auch zur Seite hin war die Krempe stark nach unten gebogen worden. Mir kam es vor, als wollte der Mann nicht erkannt werden. Verständlich, wenn er wirklich eine so schlimme Tat begangen hatte.
Das Gebet war beendet. Die Menschen hoben ihre Köpfe wieder an. Auch jetzt war ich noch in der Lage, den Mann im Blick zu behalten. Ich wollte wissen, ob er zu den Einheimischen zählte.
Ich stieß den Mann, der neben mir stand, leicht an.
Unwillig blickte er mir ins Gesicht.
»Entschuldigen Sie, aber vielleicht sind Sie in der Lage, mir eine Frage zu beantworten.«
»Jetzt?«
»Wenn es möglich ist.«
»Hm. Was wollen Sie denn?«
»Gegenüber steht ein Mann, der einen besonders auffälligen dunklen Hut trägt. Könnten Sie mir vielleicht seinen Namen nennen? Ich glaube nämlich, ihn schon mal gesehen zu haben, kann mich aber auch täuschen.«
»Ach der. Das ist Theo Thamm.«
»Aha. Dann lebt er hier?«
»Ja, er besitzt eine kleine Schnitzerei und ist als ziemlicher Einzelgänger verschrien. Ich wundere mich, dass er überhaupt zur Beerdigung gekommen ist. Der hat nämlich zu dem Toten keine Beziehung gehabt. Das sage ich mal.«
»Wissen Sie sonst noch etwas über ihn?«
Die Frage gefiel dem Mann nicht. Er schaute mich misstrauisch an. »Warum fragen Sie das?«
»Wir suchen einen Mörder.«
»Hier?« Er nahm mir wohl ab, dass ich Polizist war und fragte nicht mehr nach.
»Ja, überall.«
»Wo kommen Sie denn her?«
»Aus München.«
»Oh, auch das noch.«
»Der Mord hat leider Kreise gezogen.«
Der Mann, der einen gefütterten Janker trug, nickte. »Und jetzt verdächtigen Sie Theo Thamm?«
»Nein, nein, so ist das nicht. Ich wollte mir nur ein Bild machen. Das ist alles.«
Ob der Mann mir glaubte oder nicht, war mir jetzt egal. Seine Aussage jedenfalls hatte mich einen kleinen Schritt weitergebracht.
Jetzt wusste ich zumindest, dass die Trauergäste nicht alle Freunde des Verstorbenen gewesen waren.
Zudem schien dieser Typ allgemein nicht beliebt zu sein. Auf jeden Fall wollte ich ihn nach der Beerdigung abfangen und mich mit ihm unterhalten.
Jemand tippte mir auf die Schulter.
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