1311 - Die Teufelszunge
– und war weg!
Shols lachte komisch auf. Er rieb seine Augen. Er stierte durch die Tür, aber er hatte sich nicht geirrt. Er hätte Marisa auf der Mitte der Treppe sehen müssen, aber da war sie nicht, denn sie hatte sich schon auf der dritten Stufe aufgelöst. Als hätte ihr Körper aus Nebel bestanden, der in starkes Sonnenlicht geraten war.
Der Musiker konnte es nicht begreifen. Er saß auf seiner Liege und schüttelte den Kopf. Beide Hände hatte er gegen sein Gesicht geschlagen. Er lachte in sich hinein und ließ die Hände nach einer Weile wieder sinken.
Nichts hatte sich verändert. Noch immer stand die Tür offen.
Noch immer sah er den Beginn der Treppe, aber dort war niemand zu sehen. Der Besuch schien ein Traum gewesen zu sein. Nur – wer hätte dann die Tür öffnen sollen?
Shols kannte sich. Er war kein Schlafwandler. Er hatte die ganze Zeit über in seinem Bett gelegen und war erst durch die kalte Berührung richtig erwacht.
»Das ist doch nicht möglich«, flüsterte er vor sich hin. »Verdammt noch mal. Ich bin nicht verrückt. Ich bin kein Spinner. Ich drehe doch nicht durch…«
Weiter sprach er nicht mehr. Er kam sich so anders vor. Er hatte nie über gewisse Dinge nachgedacht, nun aber kamen sie ihm in den Sinn. Es war für ihn eine Spukerscheinung gewesen. Vielleicht die Gestalt aus einem Traum, die plötzlich wahr geworden war.
Nun aber nicht mehr…
Es gab sie nicht. Sie war nicht nur verschwunden, sie hatte sich sogar aufgelöst, und das hatte er mit eigenen Augen gesehen. Trotz seiner 60 Jahre war er nicht senil und noch immer top.
Aus dem unteren Teil des Hauses hörte er ein Geräusch. Eine Tür wurde zugeschlagen. Wenig später hallte die Stimme seiner Frau Charlotte zu ihm hoch.
»Bist du noch oben, Walter?«, rief sie.
»Ja, das bin ich«, flüsterte er vor sich hin…
***
»Nein«, sagte Charlotte Shols nur und schaute ihren Mann über den gedeckten Tisch hinweg an. »Das kann ich nicht glauben. Das hast du dir eingebildet. Du hast geträumt.«
Walter schüttelte langsam den Kopf. »Ich wollte, ich hätte geträumt. Es ist leider nicht der Fall gewesen. Alles, was ich dir gesagt habe, trifft hundertprozentig zu. Ich bin von einer nackten jungen Frau besucht worden. Sie hat sich mir als Marisa vorgestellt. Sie muss durch die geschlossene Tür in mein Zimmer getreten sein und hat mich geweckt. Dann wurde sie ihre Botschaft los, von der ich dir ebenfalls erzählt habe, und ist anschließend verschwunden. Sie ging normal und hatte kaum die zweite Treppenstufe erreicht, da löste sich ihr Körper auf. Das kannst du mir glauben. Sie war auf einmal weg.«
Charlotte Shols sagte lieber nichts. Sie war um gut 15 Jahre jünger als ihr Mann. Eine aparte Mitvierzigerin mit dunklen Haaren, die sie halblang trug. Die ausdrucksvollen dunklen Augen schauten Walter sehr ruhig an.
Sie sagte nichts, aber der Trompeter wusste schon, was sie meinte: »Du glaubst mir nicht, wie?«
Sie lächelte schmal. »Ich will ehrlich zu dir sein. Es fällt mir zumindest schwer.«
Walter nickte. »Mir auch, Charlotte, obwohl ich es selbst erlebt habe. Ich kann nichts daran ändern.« Er atmete tief aus und strich durch sein dunkles Haar, das ebenso schwarz war wie sein Kinnbart. Die sonst sehr wachen Augen sahen müde aus. Es war ihm anzusehen, wie er sich fühlte, und das sagte er auch.
»Am liebsten würde ich das Konzert heute Abend absagen.«
»Nein!« Charlotte, die aus Deutschland stammte, saß plötzlich starr vor ihm. »Das kannst du nicht machen.«
»Warum nicht?«
»Denk an deine Fans, an deine Zuhörer. Sie zahlen nicht wenig Geld, um dich zu hören. Sie kommen nur deinetwegen. Du bist nicht irgendein zweitklassiger Popsänger, sondern ein echter Superstar, der seinen Beruf gelernt hat. Du hast studiert. Du hast eine klassische Ausbildung bekommen. Nein, Walter, das kannst du nicht. Dieses Konzert wird wieder eine Meisterleistung von dir sein, das weiß ich genau. Die Leute werden jubeln und begeistert sein. Ich weiß das. So ist es immer gewesen, und so wird es auch diesmal sein. Egal, ob du diesen Traum nun hattest oder nicht.«
»Das war kein Traum, Charlotte.«
»Gut, Walter, so siehst du es. Aber du erlaubst mir, dass ich es mit anderen Augen sehe.«
»Natürlich.« Er griff zur Kaffeetasse und hob sie an. Besorgt stellte seine Frau fest, dass die Hand zitterte, so hart hatte die Begegnung Walter mitgenommen.
Einen Kommentar gab Charlotte nicht ab. Sie wartete, bis die Tasse
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