1311 - Die Teufelszunge
gegen die Lippen, um einen Probeton zu blasen. Das hatte er nicht nötig. Er konnte sich voll und ganz auf sein Instrument verlassen.
Von irgendwoher hörte er ein Lachen. Ansonsten war es still in der Garderobe, in der es drei Spiegel gab, die nebeneinander an der Wand hingen. Er konnte sich einen Platz aussuchen und entschied sich für den in der Mitte.
Die Trompete legte er wieder in den Kasten zurück. Seine Frau und auch die Maskenbildnerin ließen sich nicht blicken. Die Zeit drängte zwar nicht so sehr, eine halbe Stunde hatte er noch, aber er wollte nichts überstürzen und alles in Ruhe angehen.
Da hörte er das Summen…
Walter Shols zuckte zusammen. Er kannte die Melodie. Er hatte sie schon oben in seinem Zimmer vernommen, aber in den vergangenen Stunden hatte er nicht mehr daran gedacht.
Jetzt war sie wieder da!
Der Musiker schluckte. Die Ruhe war vorbei. Er fühlte sich von Nervosität befallen, weil er eben nicht wusste, woher ihn die Melodie erreichte.
Er schaute sich um.
Es war niemand da, doch vor seinem geistigen Auge erschien wieder das Bild der nackten Elfe.
Ja, so hatte er sie genannt. Es war eine Elfe für ihn. Ein schon überirdisches Wesen mit allen Tributen einer schönen und jungen Frau. Mit einem wunderbaren Körper und faszinierenden Augen, deren Blick ihn gebannt hatte.
Er hörte das leise Singen. Den kalten Hauch spürte er nicht. Das Jenseits oder welche Welt es auch immer sein mochte, hielt seine Tore geschlossen.
Walter Shols achtete auf seine Gefühle. Er wusste nicht genau, ob er sich fürchtete. Von Angst konnte er nicht sprechen. In ihm steckte mehr eine Erwartung, denn er wusste sehr genau, dass noch etwas passieren würde.
So wartete er die nächsten Sekunden ab und blickte dabei in den Spiegel, um sich selbst zu betrachten.
Er sah sich, aber er sah auch etwas anderes. Über sein Gesicht schob sich ein anderes hinweg. Sehr deutlich erkannte er es noch nicht, aber das andere Gesicht nahm an Dichte und Stärke zu. Es verdrängte sein eigenes Spiegelbild, und plötzlich gab es nur noch das eine Gesicht.
Ihr Gesicht!
Marisa war gekommen!
Sie schaute ihn an. Sie lächelte ihm zu. Er las keine Falschheit in diesem Lachen. Es war so weich, so nett und zugleich mädchenhaft.
»Du…?«
»Ja, ich bin es.«
»Aber ich…«
»Denkst du denn, ich hätte dich vergessen?«
»Nein, nein, das nicht. Es ist nur so überraschend für mich, dich wieder zu sehen.«
»Wusstest du denn nicht, dass ich in deiner Nähe sein würde?«, fragte sie leise. »Es ist alles so wunderbar. Genau so wie ich es mir vorgestellt habe…«
»Nein, nein, du kannst nicht… ich mein … ich … ich … muss spielen. Versteh das.«
»Du sollst auch spielen.«
»Genau und…«
»Unser Lied, mein Freund. Du wirst es spielen, und ich freue mich darauf.«
Walter Shols verstand die Welt nicht mehr. Obwohl er in einer ihm bekannten Garderobe saß, hatte er das Gefühl, sich allmählich aus seinem Leben zu entfernen. Er erlebte wieder diesen Moment zwischen Wachsein und Wegtreiben. Das konnte doch alles nicht stimmen. Das war nicht die Realität, und er fasste sich schließlich ein Herz, beugte sich vor und streckte seine rechte Hand dem Spiegel entgegen.
Er berührte die Fläche.
Mehr auch nicht.
Er ertastete kein Gesicht unter seinen Fingern. Die Spiegelfläche blieb völlig normal, da war wirklich nichts, was ihn gestört hätte.
Sein Herz schlug wieder schneller. Er versuchte zu denken, was ihm jedoch nicht richtig gelingen wollte. Die Logik des Lebens war dahin. Dafür hatte sich die Irrationalität ausgebreitet.
»Bald sehen wir uns wieder…«
Shols hörte noch dieses Versprechen. Es lag ihm auf der Zunge, etwas zu erwidern, aber er schaffte es nicht. Die andere Seite war stärker. Sie hatte ihn einfach zu sehr beeinflusst.
Das Bild verschwand. Sein eigenes Gesicht sah er immer deutlicher, während das andere zu einem Schatten wurde und schließlich nicht mehr zu sehen war.
Der Künstler schaute sich selbst an. Nein, das war kein Schauen mehr, das glich schon einem Starren. Er sah seine weit geöffneten Augen. Er blickte auch in seinen Mund, den er vor Staunen nicht mehr zubekam, und er nahm die Schweißperlen wahr, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten und nun als Tropfen an ihr entlang nach unten glitten. Er konnte nicht über große Gefühle reden und auch nachdenken. Er war einfach nur bewegungsunfähig und glaubte wieder, dass ein Teil von ihm diese normale Welt verlassen
Weitere Kostenlose Bücher