1318 - Terror am Totenbett
niemand aus dem großen Kreis der Verwandtschaft hatte ihr etwas davon gesagt.
»Schön bist du, sehr schön. Hätte ich nicht gedacht. Wirklich, du kannst dich auf meine Komplimente verlassen, denn ich kenne mich verdammt gut aus.«
Bei vielen anderen Männern hätte sich Claudia über dieses Kompliment gefreut. Hier wollte ihr das nicht gelingen. Es lag nicht mal an der Person des Alten selbst, sondern an etwas anderem, das sie nicht in Worte kleiden konnte.
Das war auch kein geiler Greis, kein alter scharfer Bock, wie man so schön sagte. Er hier war einfach anders. Nicht voller Lebensfreude strotzend und auch noch nicht tot. Er existierte irgendwo dazwischen und bereitete ihr ein Gefühl, das sie so auch nicht kannte. Ein gewisses Unbehagen.
Bestimmt erwartete der alte Mann eine Antwort. Claudia war nicht auf den Kopf gefallen, sie kam mit jeder Situation zurecht, doch hier war sie sprachlos geworden.
Sie konnte nicht reden. In ihrer Kehle klemmte etwas. Noch immer wollte die leichte Röte nicht aus ihrem Gesicht weichen, aber sie wusste auch, dass sie etwas sagen musste.
»Hi! Ich bin da, Sir.«
Sekundenlang geschah nichts. Dann öffnete der Lord seinen Mund und lachte fast gackernd. Sein magerer Körper unter der Kleidung wurde geschüttelt, und sogar Tränen waren in seinem rechten Auge zu sehen. Er wischte sie mit der Fingerkuppe ab.
»Du brauchst mich nicht Sir zu nennen, meine Kleine«, sagte er, nachdem er sein Gelächter eingestellt hatte. »Wir sind schließlich verwandt, auch wenn wir uns fremd sind. Aber ich kann dir ehrlich sagen, du bist die Schönste aus der Verwandtschaft. Ja, meine Kleine, das bist du.«
Claudia gefielen die Komplimente des Alten nicht, auch wenn sie ehrlich gemeint waren. Sie traute ihrem Großonkel nicht. Sehr viel wusste sie nicht über ihn, aber das Wenige, das sie von der Verwandtschaft erfahren hatte, reichte ihr.
Er war immer als Schürzenjäger bekannt gewesen. Er hatte nichts anbrennen lassen und auf seine Ehefrau keine Rücksicht genommen. Ein Macho wie er im Buche stand. Auch jetzt schien das Feuer in ihm noch nicht erloschen zu sein, doch es haperte wohl mit der Umsetzung. Das Gehirn war noch wach, das andere nicht mehr.
»Komm noch etwas näher…«
»Natürlich.« Die Stimme kratzte bei der Antwort.
Claudia blieb stehen, als sie ihn in Brusthöhe erreicht hatte. Sie sah das Lächeln, das mehr einem Grinsen ähnelte, und erlebte dann, wie er die rechte Hand anhob und dabei auf sein linkes Auge zeigte.
»Stört dich was?«
»Wieso? Was sollte mich stören?«
»Das Auge.«
»Nein, ich…«
»Warum lügst du denn? Du hast dich erschreckt, wie? Das Auge ist künstlich. Ein Glasauge. Das hat dich erschreckt, wie?« Er riss den Mund auf und lachte.
Was er dann tat, erschreckte Claudia, aber sie bekam es nicht so genau mit, weil alles zu schnell ging. Er hatte in seine Augenhöhle gegriffen und das künstliche Auge hervorgeholt.
»Da, fang!«
Er warf es auf sie zu. Automatisch zuckten Claudias Hände nach vorn und bildeten einen Trichter, in den das künstliche Auge wie eine glitschige Kugel hineinfiel…
***
Ich saß im Rover und hatte mich auf den Weg gemacht. Es war ja nicht viel passiert oder so gut wie nichts, aber ich sparte mir die Fahrt trotzdem nicht, denn da war wieder dieses unbestimmte Gefühl, das mich vorantrieb. Ich kannte es. Außerdem waren meiner Meinung nach zu viele Zufälle zusammengekommen oder auch vom Schicksal geleitete Aktionen, die ich auf keinen Fall übersehen durfte.
Da braute sich etwas zusammen. Jemand hatte ein Netz gesponnen, das sich immer mehr verdichtete. Das spürte ich mit jeder Faser des Nervenkostüms.
Mein Ziel lag zwar in London, von der Stadt selbst war aber weder etwas zu sehen noch zu hören. Eine feld- und waldreiche Umgebung hatte mich aufgenommen. Sie breitete sich zwischen zwei Vororten aus.
Die weibliche Stimme hinter dem Display erklärte mir, wie ich zu fahren hatte. Das war recht angenehm. Zum Haus hinführen würde sie mich nicht. Nicht alle Straßen waren einprogrammiert worden.
Pfade, die durch Äcker führten oder kleine Privatwege nicht.
Überholt wurde ich kaum. Auch aus der entgegengesetzten Richtung kamen mir keine Fahrzeuge entgegen. Es war eine Gegend, in der man sich erholen und spazieren gehen konnte. Mehr in der Theorie, denn in der Praxis entdeckte ich keine Person, die so etwas getan hätte. Es blieb alles friedlich und still, bis ich den Streifenwagen entdeckte, der in einer
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