1318 - Terror am Totenbett
Todkranker sprach. Außerdem wunderte sie sich über die Festigkeit der Stimme. Ihr Großonkel schien alles andere als kurz vor dem endgültigen Einschlafen zu stehen. Der hatte dem Sensenmann seine Hand schon wieder entzogen.
Sie sagte nichts. Ihre Blicke durchwanderten den Raum, und wieder konnte sie sich nur wundern. Das war kein Schlafzimmer, das jemand als Sterberaum hergerichtet hatte, auch wenn es da einen Leuchter mit drei Kerzen gab, hierher zog man sich eigentlich zurück, um zu lesen und seine Ruhe zu haben. Oder auch in einer Atmosphäre zu arbeiten, die aus der Vergangenheit herübergerettet worden war, mit dunklen Holzregalen, vollgepfropft mit Büchern der unterschiedlichsten Dicke. Sie entdeckte sogar ein Stehpult und zwei breite und hohe Ledersessel aus Viktorianischer Zeit, aber ein Gegenstand konnte einfach nicht übersehen werden, weil er einfach zu dominierend war.
Das Bett!
Ein Bereich für sich. Groß und wuchtig. Mit einem hohen Kopfende und auch mit einem entsprechenden Fußstück. Weiße Bettwäsche, ein helles Oberteil, damit der Kontrast zur Kleidung des dort liegenden Mannes voll durchschlug.
Lord Peter Wexley lag auf dem Rücken, die Hände auf der Brust gefaltet. Er trug ein dunkles Jackett und ein helles Hemd mit Rüschen am Kragen und an den unteren Enden der Ärmel. Das graue Haar fand sich in seinem Bart nicht wieder, denn er war dunkel, wobei er Mund und Kinn umwucherte.
Die Haut sah sehr hell aus. Das Gesicht zeigte zudem einen scharfen Schnitt, aber es war nicht greisenhaft verändert und zusammengefallen. Der Mann wirkte nicht wie ein Sterbender, er sah mehr aus wie jemand, der sich für einen kurzen Schlaf zur Ruhe gelegt hat. Durch die beiden dicken Kissen lag der Kopf etwas erhöht, und so hatte er seine Großnichte bei ihrem Eintreten bequem beobachten können.
Auch Claudia hatte sich alles angeschaut. Sie war langsam genug gegangen. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass sich ihre Spannung bei jedem weiteren Schritt nach vorn lösen würde. Das war jedoch nicht der Fall. Damit musste sie klar kommen, was nicht leicht war. Innerlich suchte sie nach einer Lösung, die sie befriedigte und die sie schließlich auch fand. Sie hatte das Gefühl, eine Bühne zu betreten und das Stück »Der eingebildete Kranke« zu sehen, obwohl ihr Großonkel diesen Eindruck nicht machte. Vielleicht war er auch jemand, der sich in der Gewalt hatte und sich von seinem inneren Leiden nichts anmerken ließ.
Ob sich der Butler noch im Raum aufhielt, wusste sie nicht. Claudia drehte sich nicht mehr um, denn irgendwie hatte sie der Anblick ihres Verwandten gefangen genommen.
»Nun geh nicht so langsam, meine Kleine. Du weißt, dass ich nicht mehr viel Zeit habe.«
»Deshalb bin ich ja hier.« Tonlos hatte ihre Antwort geklungen und auch nicht so ganz der Wahrheit entsprechend. Es ging ja nicht um die Krankheit, sondern um einen Teil des Erbes.
Neben dem Bett blieb sie stehen. Sie schaute hinab in das Gesicht des alten Verwandten und wunderte sich darüber, wie glatt die Haut des alten Mannes doch war. Als hätte man sie straff gezogen und somit sämtliche Falten entfernt. Er war schon seltsam alt geworden, das musste Claudia sich selbst gegenüber zugeben.
Der Lord konnte nicht genug von ihrem Anblick bekommen. Er forschte in ihrem Gesicht. Es war für ihn wunderbar. Er schaute vom Hals her herab, und diese Figur machte ihn irgendwie an, denn in seinen Augen war plötzlich ein Funkeln zu sehen. So wie von ihm konnte sie auch von einem jungen Mann angeschaut werden.
In seinen Augen?
Claudia riss sich zusammen. Sie versuchte vor allen Dingen die Röte in ihrem Gesicht zu unterdrücken. Sie sah sich immer als eine emanzipierte Frau an, doch jetzt wirkte sie wie ein keusches Mädchen aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts, das einem Mann vorgestellt wurde, den seine Eltern für ihre Heirat vorgesehen hatten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt so unsicher gewesen war.
Es lag am Blick seiner Augen. Und nicht allein an diesem schon gierigen Ausdruck, der seine Gedanken deutlich dokumentierte, nein, das war noch etwas anderes, das sie störte.
Es lag am linken Auge.
Es war vorhanden, kein Zweifel, doch es war trotzdem anders.
Sie bemerkte es genau, denn es bewegte sich nicht.
Genau das war es. Ein starres und bewegungsloses Auge, das sie anstarrte. Es gab für sie nur eine Lösung. Dieses Auge musste künstlich sein, und damit hatte sie nicht gerechnet, denn
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